Simultan

Frank

Aus Simultan

Eine Frau steht im Weg, als Marianne mit Frank vor der Glastüre steht. Es ist der Eingang des neuen Kaufhauses. Gestern erst war die Eröffnung – und heute noch strömen die Menschen in Scharen, um den neuen Konsumtempel von innen zu sehen. Marianne war eben beim Zahnarzt, sie musste eine Füllung erneuern lassen. Frank musste währenddessen im Wartezimmer sitzen, und Marianne hat im versprochen, dass sie danach ins Kaufhaus gehen würden, um ihm ein Spielzeug zu kaufen.
Nachdem die beiden durch die Glastüre getreten sind, stehen sie nun im Erdgeschoss des Kaufhauses. Überall sind kleine Tresen, an denen stark geschminkte Frauen Kosmetika verschiedener Marken feilhalten. Sie reden auf Kundinnen ein, erzählen ihnen, wie gut diese Gesichtscrème oder jenes Parfum gegen die Alterung wirke oder zu ihnen passen würde. Marianne lässt kurz Franks Hand los, um ein Taschentuch aus ihrer Handtasche zu nehmen, und schaut sich um.
Marianne beschliesst, in den ersten Stock zu fahren. Sie geht mit Frank zur Rolltreppe, die nach oben führt. Es ist Ende Oktober und überall glitzert und glänzt der Weihnachtsschmuck. Grosse und kleine Nikoläuse stehen neben Kugeln verschiedener Farben, sternförmige Kerzen liegen neben kleinen Tannenbäumchen, Baumschmuck hängt an allen Gestellen. Überall sind Tannenzweige an der Decke, reich befrachtet mit farbigen Glühbirnchen und Engelchen, die auf die Kundschaft hinab blicken. Sie gehen vorbei an Frottierwäsche und Skibekleidung. Viele Leute stehen auf den Gängen herum, gehen langsam an den Auslagen vorbei, nehmen hier etwas in die Hand, schauen dort etwas genauer an.
„Mami, die Spielwarenabteilung ist im zweiten Stock!“, ruft Frank.
„Jetzt habe doch ein wenig Geduld“, antwortet Marianne. Sie hat eben einen Pullover gesehen, der, wie sie findet, ihrem Mann gut stehen würde. Sie streicht mit einer Hand über die weiche Wolle. Dann denkt sie, sie sollte eher Ester Schneiter unterstützen, statt hier bei Manor einzkaufen.
Als sie wieder nach Frank schaut, ist er plötzlich weg. Eben hatte er noch neben ihr gestanden. Doch der Junge ist in dem Getümmel nirgends zu sehen. Die Verkaufsstände behindern die Sicht. Marianne beginnt ihn zu suchen. Sie geht im ganzen Laden herum, schaut hinter die Gestelle, geht in alle Ecke, schaut in die Umkleidekabinen – wobei sie einige empörte Blicke erntet –, doch ihr Sohn ist nirgends zu sehen. Marianne geht zum Kundendienst und meldet, dass sie ihren Sohn verloren habe. Gerade als sie den Sachverhalt zu erklären versucht, dröhnt eine laute Durchsage durch das gesamte Haus: „Profitieren Sie jetzt von der Manor-Card…zehn Prozent Rabatt auf alle Produkte…Profitez maintenant de la carte Manor…dix pourcent de rabais sur tous les produits…“. Kurze Zeit später ist folgende Durchsage zu hören: „Frank, deine Mami sucht dich. Bitte komm zum Kundendienst im zweiten Stock.“
Marianne durchforstet noch einmal den ganzen zweiten Stock und fährt dann auf der Rolltreppe in den ersten Stock, geht noch einmal durch den Weihnachtsschmuck hindurch und schliesslich weiter ins Erdgeschoss. Da fällt ihr ein, dass sie noch gar nicht im Untergeschoss gesucht hat, dort ist die Lebensmittelabteilung. Sie fährt ganz runter und geht durch die Schleuse in den Laden. Überall stehen Menschen herum: Sie riechen an Melonen, wägen ihr Gemüse, begutachten Fleisch oder wählen einen Käse aus. Marianne eilt an allen Regalen vorbei, schaut nach rechts, schaut nach links, doch nirgends ist ihr Frank zu sehen.
Plötzlich sieht sie am Ende eines Ganges Kürbisse auf dem Boden liegen. Sie ahnt Böses. „Hast du einen Kürbis als Kopf?“, schimpft Marianne ihren Sohn an. Dieser blickt zu Boden und schweigt.