Simultan

Mar, Freitag-3-10-2008

Aus Simultan

TreppenhausMar.gif



Mar genoss die Stille. Das kalte, graue Licht. Den Schwindel des Schlafmangels. Vielleicht würde sie nochmal einschlafen, wenn sie die Vorhänge zuzog. Die Nacht künstlich noch ein wenig verlängerte. Sie fragte sich, was es mit ihrem Herzklopfen auf sich hatte, dass sie seit einigen Tagen zu viel zu früher Stunde aus dem Bett trieb. Senile Bettflucht. Vielleicht wurde sie tatsächlich alt. Wer hätte das gedacht.

Sie drehte sich auf die Seite und überliess ihren Gedanken das Ruder. Worte tauchten auf, vergessen geglaubte Fetzen.

Auf der Strasse liegen die Federn meiner Flügel...

Woher kam dieser Satz? Sie versuchte sich zu erinnern.

Auf der Strasse liegt ein Stück meiner Haut...

Weissblonde Haare, wirr um mit rauher Haut überspannte Wangenknochen stehend.
Mar öffnete die Augen. Nein. Nicht jetzt. Sie stand auf, bemüht die beste Beschäftigung, die geeignetste Strategie zu entwickeln, die dieses Bild, dieses Gesicht aus ihren Hirnwindungen löschte. In die Dunkelheit, die tiefe Schublade zurückdrängte, aus der es hervor gekommen war. Nur ein Moment. Nur ein kurzer Moment, in dem sie nicht aufgepasst hatte.

Mar wickelte sich einen Schal um ihren Körper und rollte sich eine Wollmütze über die Ohren. Der Luftzug liess sie frösteln als sie die Tür öffnete. Es knarrte unter ihren blossen Füssen, als sie die Stufen zum Speicher hochstieg. Irgendwann hatte sie sie einmal gezählt. Vierzehn, Fünfzehn, Sechzehn. Vorbei an der grünen Tür von Richard, Vierundzwanzig, Fünfundzwanzig, Sechsundzwanzig, der Schuhsammlung von Frau Sand, Vierunddreissig, Fünfunddreissig, Sechsunddreissig, an der laschen Topfpalme von Frauke. Vierzig Stufen, stellte sie etwas ausser Puste fest. Vierzig Stufen bis zum Absatz, an dessen Ende die massive Holztür, die einzige Möglichkeit war um weiterzukommen. Mar stemmte sich dagegen.

Ihr stockte augenblicklich der Atem. Ein beträchtlicher Teil des Bodens war mit Papierschnipseln übersäht. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, um was es ich dabei handeln konnte. Wimmernd liess sie sich auf ihre Knie nieder und las, was auf einem der Schnipsel noch zu entziffern war: "...alle aus demselben Topf von Weisheite.."

"Verfluchte Scheisse!"

Wütend sah sie sich nach dem Übeltäter um und entdeckte einen dunklen Fleck in einer Ecke, die das durch das kleine Dachfenster schräg einfallende Licht, kaum erreichte.

"Miauuu"

"Was zum..."

Eine schlanke Katze kam zögerlich auf sie zu und umstrich schnurrend ihre Beine.

"Jaja. Jetzt tuts dir Leid, was? "

Mar hob das Tier hoch, das sich nicht im geringsten dagegen wehrte und wehrlos in ihren, weit von sich gestreckten Armen hing.

"Aha. Ein Kater bist du also. Wohl einen Testosteron überschuss gehabt Kleiner? Wie kommst du überhaupt hier hoch?"

In diesem Augenblick streifte ein kalter Luftzug ihren Nacken. Mar schaute nach oben und bemerkte das Loch im Dach, unter dem einige Splitter von Schindeln verstreut waren. Sie liess den Kater auf den Boden hinunter um das Loch genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Kater folgte ihr schnurrend.

"Bist wohl auf den Dächern unterwegs gewesen. Ach du armer. Wie lange bist du denn schon hier eingesperrt? Herrje... Was mach ich denn jetzt mit dir?"

Mar seufzte und machte sich daran die Schnipsel aufzuheben und sie in die leere Kartonkiste zurückzufüllen, in der sie sie, in unzerstörter Form  im hinteren Teil des Dachbodens aufbewahrte.

"Vielleicht sollte ich mir doch ein anderes Versteck dafür suchen..."

Als sie damit fertig war, nahm sie den Kater, der ihr die ganze Zeit über mit grossen, grünen Augen zugeschaut hatte unter den Arm. Mit der noch freien Hand hob sie die Kartonschachtel auf und machte sich auf den Weg, hinunter in ihre Wohnung.