Simultan
In der Therapie
Aus Simultan
Sie sitzen im Kreis. Der Raum sieht aus wie ein Schulzimmer. An den Wänden hängen dilletantische Bilder. Die Stühle, auf denen sie sitzen, sind aus Holz. Auf dem Fensterbrett stehen ein paar verkümmerte Topfpflanzen, anspruchslose Organismen eigentlich. Auf einem Flipchart sind Notizen zu sehen.
"Ich begrüsse euch ganz herzlich zur heutigen Sitzung", sagt Herr Spuhler, während er in die Runde blickt. Er hat gekräuseltes grau-weisses Haar, das sich oben auf dem Kopf lichtet, und er trägt einen langen weissen Bart sowie einen Schnauz, der langsam über seine Oberlippe wächst. Im Kreis sitzen Hugo, Mar, Marianne, Irina Trepkowitz und Daisy.
"Dann erzählt doch mal, wie es euch in den letzten Wochen gegangen ist. Hugo, fängst du bitte an?"
Hugo räuspert sich und setzt sich senkrecht in seinen Stuhl. Er schaut nervös in die Gesichter der anderen. "Also... Wenn ich ehrlich bin, nicht anders als in den Wochen davor...“
„Was heisst das konkret?“, fragt der Therapeut.
„Ich hatte wieder das Problem mit der Türe...“
„Aha.“ Der Therapeut nickt. Die anderen hören aufmerksam zu. „Und wie hast du dich dann jeweils aus dieser Situation befreit?“
„Indem meistens jemand dabei war, der mir gesagt hat, ich solle endlich kommen.“
„Alleine hättest du es also nicht geschafft...“
„Nein. Ich glaube nicht..."
Der Therapeut notiert etwas auf seinem Notizblock, nickt ein paar Mal, sagt leise vor sich hin „Ja, ja, ja“ und schaut dann wieder auf. „Dann machen wir jetzt fünf Minuten Pause. Sie können ein Glas Wasser trinken, und die Raucher können vor die Tür gehen.“
Mar geht hinter Daisy aus dem Therapieraum heraus. „Na, Daisy, alles klar?“
„Du rauchst auch?“, fragt Daisy. „Ich darf eben bei mir in der Wohnung nicht rauchen.“
„Und in meinem Haus sind Tiere verboten, theoretisch.“
„Wie meinst du das, in deinem Haus?“, fragt Daisy.
„Ich habe von meinem Grossonkel ein Haus geerbt."
Mar und Daisy stehen draussen vor dem Gebäude. Ein eisiger Wind weht an der grauen Betonfassade entlang. Ein kleiner Platz, wie ein Schulhof, liegt vor dem Haus. Einige Parkplätze befinden sich auf der gegenüber liegenden Seite des Platzes, auf ihnen stehen fünf rote Autos. Sie gehören der Stadt. Mar macht einen Schritt nach vorne, um zu sehen, was auf den Autos steht. „Ich fahre ökologisch. Ihre Stadtverwaltung“. Ein einzelnes Kind geht über den Platz. Es trägt einen grossen Schulranzen und eine bunte Jacke. Es geht eine Treppe hinunter, an deren Ende sich die Schulzahnklinik befindet.
„Meinst du, hier ist immer so wenig los?“, fragt Mar.
„Keine Ahnung. Ich bin die Grossstadt gewohnt. Viel mehr Leute.“
„Wieso Grossstadt?“
„Ich habe vorher in London gewohnt.“
„Ach so. Und was hat dich hier her gebracht?“
„Ich habe mich verliebt.
„Wer ist der Glückliche?“, fragt Mar neugierig.
„Die Glückliche.“
„Eine Frau?“
„Nein, eine Wohnung. Eine Dachwohnung am Stadtrand. Mit Dachfenstern, durch die ich den Nachthimmel sehen kann. Und einem riesigen Bad und einer kleinen Galerie über dem Wohnzimmer. Ein absoluter Traum!"
„Klingt nicht schlecht. Das würde ich mir gerne einmal anschauen...“ Mar grinst.
„Wenn du willst, kannst du nach der Sitzung mitkommen und sie dir anschauen. Ich muss allerdings sagen, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr geputzt habe.“
„Das macht nichts. Ich komme gerne.“
Mar zieht an ihrer Zigarette und drückt sie in dem kleinen Aschenbecher neben der Tür aus. Daisy nimmt einen letzten Zug und lässt die Kippe auf den Boden fallen.
„Heisst du deshalb Daisy?“ Mar zieht an der Glastüre.
„Nein. Den Namen habe ich seit meiner Kindheit.“
Sie betreten wieder den Therapieraum.