Simultan

Geschäft für Wolle-, Strick- und Handarbeiten

Aus Simultan

Die Kälte brennt in ihrer Nase wie Wasabi und das Regenwasser, das sich an der Hutkrempe angestaut hat, rinnt wie Schweiss über ihre Stirn, baumelt als Tropfen kurz an der Nasenspitze und fällt dann endlich zu Boden. Letzte Nacht hat sich Ester in den Schlaf geweint und weint vielleicht immer noch, nur ist es in der Traufe nicht erkennbar. Es gibt niemanden, der es erkennen könnte an diesem verregneten Herbstmorgen. Untergasse, Altstadt, Marktgasse, menschenleer. Ich denke schaudernd an Thomas Glavinic, Ester aber nicht an Jonas, sondern an ihre ModEsteria. Mit dem Ausstopfen der amerikanisch gefütterten Sommersakkos und dem Verstricken ihrer ganzen Wollvorräte hat sich die Boutiqueinhaberin nach der Absage ESPRITs abzulenken versucht und auf die neue Situation einzustellen. Wann wir ihr Stern aufgehen?

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Auf welchen Farben wird Stella aufbauen, aus welchen Materialien gestrickt sein, in welchen Formen präsentiert? Ester weiss es nicht, ihre Ideen sind vom Regen wie weggespült. Als sie bei ihrem Spaziergang den ESPRIT-Shop passiert, untersucht sie das Muster des Kopfsteinpflasters, das Abrutschen ihrer Absätze in die kleinen Rinnen und das Sprenkeln der zu Boden fallenden Tropfen. Aufgewalzte Werbung auf dem Boden, „10% Eröffnungsrabatt“, weiss auf rotem Grund, wie die Nationalflagge. In der einen Ecke des Prints, über den Ester dem Laden ausweichend schreitet, stolpert sie beinahe über eine sich in ihre Stiefeln werfende, an die Strümpfe schmiegende Katze. Ihr Fell ist getigert in einem matt wie Titan schimmerndem Grau, durchwirkt mit dunkleren Streifen mit einem leichten Braunstrich. Die Bauchpartie ist heller gefärbt und es gibt einen auslaufenden Übergang wie bei den Silberrücken, nur ist das Fell nicht zottig, sondern geschmeidig, beim Streicheln verschmilzt die Hand mit der glatten Oberfläche und wie bei einem Plüschbär knistert es, nur ohne blaue Funken. Ester ist elektrisiert. Der Farbton des Katzenfells neben ihrem tristen Strickschal, den wie spinnwebigen Strümpfen und dem wie ein Tampon stimmungsaufsaugenden Schwarz ihres Kurzmantels wirkt so leuchtend, froh und erfüllend, dass sie ihn einfach haben muss.

Vor der Wollauslage Ihres Vertrauenshändlers tigert sie auf und ab, die Knäuel an der Plastiketikette herausreissend wie eine Katze, die mit ihnen spielen möchte und dann ebenso schnell das Interesse verliert. Die grauen, beigen, braunen Fäden verwebt sie zu unentwirrbarem Filz, hat bald jeden Ton über die Theke ausgebreitet, so dass deren feuriges Rot wie unter alter Asche erstickt. Mit einer Stichflamme schiesst es wieder hervor, als Ester das geprüfte Garn mit dem Arm vom Tisch wischt, fruchtfliegenartige Brösel, einige davon verkleben, verhaken sich in ihrem Strickpullover. Neben der verdatterten Verkäuferin braust sie heraus, in den brausenden Regen.

Mit dem Wasser im Abfluss lässt sich Ester treiben, versickert mehrmals beinahe in einem Senkloch, spritzt dann mit den von Autos aufgepeitschten Pfützen zurück auf das Trottoir, auf dem sie wie Tropfen an einer Fensterscheiben wieder zusammenfliesst. Als sie sich einmal gegen die Strömung, den Sog stemmt, ihren Kopf aus den Fluten hebt, triebt sie an ihrem Firmenschild vorbei, unter ihrem Sternensignet hindurch, das einen neuen Anstrich nötig hat, und strandet im Tante-Emma-Laden von Frau Stocker.