Simultan

Tobias

Aus Simultan

Version vom 21. Oktober 2007, 11:48 Uhr von KatharinaW (Diskussion | Beiträge)

Eigentlich muss man Tobias schon allein seiner Haare wegen lieben. Die kringeln sich in alle Richtungen, kümmern sich weder um Mode noch Schwerkraft. Es sind dunkle, starke, schöne Haare, in die man hineingreifen möchte, doch dann hängt man fest. Ich stelle mir vor, wie Tobias und ich durch die Stadt gehen, meine Hand in seinen Haaren gefangen. Ich würde mein Bett in sein Schlafzimmer stellen müssen, und vor dem Einschlafen würden wir uns Geschichten erzählen. Es wäre natürlich die rechte Hand, denn ich mache alles mit meiner rechten Hand, auch in das Haar anderer Leuten greife ich mit der rechten Hand. Ich würde lernen müssen, mit Links zu zeichnen, würde wieder ganz vorne beginnen müssen, mit krakeligen Linien und zu großen Köpfen.

Tobias wohnt nebenan. Vor einiger Zeit habe ich mein Schlafzimmer mit meinem Wohnzimmer getauscht, damit ich mein Bett neben seins stellen konnte. Jetzt gibt es nachts nur eine Wand zwischen uns, das ist weniger einsam. Nicht, das Tobias oft einsam ist. Er hat oft Besuch, auch nachts. Frau Gotzinger, die unter uns wohnt, beschwert sich gerne darüber, aber dann kann sie ihm doch nicht böse sein, wahrscheinlich wegen seiner Haare und weil er ihr immer nett lächelnd die Türe aufhält. Auch mich hat Frau Gotzinger gern, doch wieso, das weiß ich nicht.

Tobias war noch wach, als ich um zwei erschöpft nach Hause kam. Er machte Tee, obwohl ich nach Kaffee bettelte, denn Tobias ist Kaffeekünstler und ich brauche Kunst in meinem Leben. Und Koffein. Nichts da, sonst kannst du nicht schlafen. Yes, Mom.

Ich will nicht schlafen. Ich habe keine Zeit zum Schlafen. Ich muss noch berühmt werden und Kinder kriegen und meine innere Balance finden und zur Weinkennerin mutieren, und das alles vor meinem vierzigsten Geburtstag. Hast du gehört und verstanden?

Das Telefon klingelt, doch Tobias geht nicht ran.