Simultan

Stoppen im Nirgendwo - un arrêt imprévu

Aus Simultan

Version vom 28. Oktober 2011, 09:04 Uhr von Donatb (Diskussion | Beiträge)

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Früher habe ich immer gebettelt, mitfahren zu dürfen, und manchmal nahm er mich mit, ich schlief dann in der Führerkabine, im Wissen, dass mein Vater die ganze Nacht über mich wachte. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal mitgefahren bin, ich glaube, wir haben beide keine Lust mehr, miteinander die ganze Nacht in der Führerkabine zu verbringen, doch: Vater kam heute früh zu mir, wir sassen beim Frühstück, ich habe Tee gekocht, und er kommt und setzt sich so vor mich hin, merkwürdig ernsthaft, und spricht. Er spricht selten zu mir, er sagte nur: "Morgen! Morgen kommst du mit", und ich nickte und er war fort.

Wir fahren in der Nacht, Kiew, Adieu. Ich schaue mich neugierig im Zug um, in meiner Kabine; ich sehe das winzige Lavabo, wir stehen und rauchen.

An einem Provinzbahnhof hält der Zug. Ich öffne das Fenster, zünde mir eine Zigarette an. Es ist Dunkel, ich erkenne kein Schild. Ein sehr kleiner Bahnhof muss das sein. Die neuen, schnellen, ach so modernen Züge - und dann halten sie in einem solchen Loch, wo der Bahnsteig unbeleuchtet ist, wo - mitten in der Nacht schon gar nicht - keiner zu- und aussteigt? Ich rauche zu Ende, drücke die Zigarette aus, stolpere zum Führerhaus, die Tür steht offen, Vater schaute angestrengt auf seinen Monitor.

- Vater, warum hältst du hier? Da steigt keiner zu.

Vater dreht sich nicht nach mir um, seine Antwort ist unwirsch, er spricht wie zu einem Kind, er spricht zu mir immer wie zu einem Kind, er weiss nicht, dass ich seit drei Monaten volljährig bin.

- Warum schläfst du nicht? Es geht dich nichts an. Du solltest keine Fragen stellen. Ich bin der Zugführer.

Ich schweige, bleibe aber im Türrahmen stehen. Wir fahren weiter. Vater schaut in die Nacht, ich setze mich auf die kleine Pritsche hinter seinem Sessel, ich nicke ein, erwache erst, als wir erneut anhalten: Wir passieren die Grenze. Draussen sprechen die Beamten miteinander, ich höre die Stimme meines Vaters Gang, ich weiss, jetzt durchsuchen die Beamten den Zug, es ist die Grenze.

Es dauert nicht lange, und wir fahren weiter. Vater kommt zurück, er sieht ein wenig angespannt aus, bleich, er ist ein alter Mann geworden.

- Gibt es denn keine Zollkontrollen?

- Manchmal. Heute ist dein Glückstag. Hast du Feuer?

- Aber keine Zigaretten.

Wir fahren. Die Sonne geht auf. Das Morgenlicht wirft lange Schatten auf Vaters Gesicht. Er sieht müde aus. Die ständigen Wechsel, tags fahren, nachts fahren, vielleicht geht er bald in Pension. Ich will kein Lokführer sein. 

Der Zug hält, ich liege auf der Pritsche, im Halbschlaf.

- Sind wir da? Wir können doch noch nicht da sein.

- Er hält nur kurz, fünf Minuten, und es geht weiter.

- Vater? 

- Das ist eben so! Hör auf zu fragen!

Ich verlasse die Führerkabine, ich will mir das Gesicht waschen und mein Zeug aus der Kabine holen. Ich gehe den Gang hoch. Es muss noch sehr früh sein, fünf oder halbsechs Uhr morgens, doch von den Kabinen riecht es schon abstossend nach Morgen, nach Rasierwasser. und Trockenshampoo, Haarspray. Der ganze Zug scheint wach zu sein. Ich zwänge mich an einer Gruppe Russen vorbei; im nächsten Waggon sind noch mehr Russen, überall Leute, und alle mit ihrem Gepäck unter dem Arm, alle mit Plastiktüten und Sporttaschen. Die Fenster stehen offen, ich gehe zu Fenster hin, und was sehe ich? Sie werfen ihr Gepäck aus dem Fenster! In Europa wirft man das Geld aus dem Fenster, das weiss ich, aber verdammt, doch nicht so!

Dima drückte sich an die Aussenwand des Ganges, er wäre gern umgekehrt, doch das war nicht möglich. Überall die Leute. Ein Mann im ungewaschenen Hemd kam auf ihn zu: "was stehst du hier? Du sollst mit anpacken! Dafür wirst du nicht bezahlt!" Dima konnte nichts erwidern, er sah den Schraubenschlüssel in den grossen Händen des Mannes, und er ahnte, wie im Abteil vorne der ganze schöne neue Zug in seine Einzelteile zerlegt wurde, er kannte die Geräusche von Blech und Zerstörung; Vater, wenn Vater das wüsste. Er dachte daran, diesem Mann zu begegnen, wie dieser es verdiente, er dachte daran, ihn am Arm zu packen und zu rufen: "Wie sprichts du mit mir? Ich bin der Sohn des Lokführers, und in einigen Jahren werde ich diesen Zug führen, und Leute wie du werden dann hier, an solchen Bahnhöfen wo es nichts zu verlieren mehr gibt, rausgeworfen werden, ich verspreche es!"

Er sagte nichts.

Er nahm den Sack, den man ihm entgegenstreckte, und er ahmte nach, was die anderen taten. Die Fenster standen weit geöffnet. Er stand, wie die anderen standen, und er wagte nicht, zu sagen, dass er hier nicht dazugehöre, er wagte nicht zu sagen: "Die ist ein Irrtum! Ich bin der Sohn des Lokführers. Was tut ihr denn."

Er sagte nichts, und der Vater, der Vater war sehr weit weg, obwohl nur zwei Waggons sie trennten. 

Dann war es zu Ende. Die Männer verschwanden, zogen sich in ihre Abteile zurück, schraubten zusammen, was sie auseinandergenommen hatten, beachteten ihn jetzt nicht mehr, und Dima tat zwei Schritte, schaute ins Abteil, wie um zu prüfen, ob da noch letzte Säcke lagen, und er sah dem Mann ins Gesicht, der so aussah, wie er sich fühlte.

Der Zug fuhr an. Dima drehte sich um, eilte den langen Gang hoch, der jetzt verlassen war und alles von der Geschäftigkeit verloren hatte, und Dima trat in die Führerkabine ohne anzuklopfen.

"Vater, die Säcke. Sie haben so viele Säcke aus den Fenstern geworfen, und ich habe geholfen, es tut mir leid; und Vater,ich weiss es, ich weiss doch, was in diesen Säcken war, ich bin nicht dumm, ich bin achtzehn."

"Geh, geh jetzt wieder. Wir sprechen darüber, wenn wir wieder zu Hause sind. Ich muss mich jetzt konzentrieren, wir müssen eine Verspätung aufholen, ich bitte dich."

Dima ging zurück, er würde Zigaretten rauchen bis Warschau, rauchen und nicht denken und vielleicht könnte er noch einmal diesen Mann treffen, der ebenso verstört auf seinem Klappbett gesessen hatte, wie er selbst danebenstand. ...(chat!yegor, was denkst du?)