Simultan

Puzzle

Aus Simultan

Version vom 7. November 2008, 10:29 Uhr von Clarag (Diskussion | Beiträge)

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Als Mar wieder im Flur ihrer Wohung stand, liess sie ersteinmal den Kater runter, der sich sofort daran machte, alles neugiereig zu beschnuppern. Die Kartonkiste mit den Schnipseln, stellte sie in ihr Arbeitszimmer, neben den Holztisch, auf dem ihre Schreibmaschine stand. Seufzend hob Mar eine Handvoll Schnipsel auf und liess sie langsam wieder in die Kiste zurück rieseln. Es würde eine halbe Ewigkeit dauern, dieses Puzzle zusammenzusetzten. Das klägliche Miauen, dass aus der Küche kam, erinnerte Mar wieder daran, dass sie sich um einen Gast zu kümmmern hatte. Sie ging in die Küche und goss dem Kater ein Schälchen Milch ein, über das er augenblicklich herviel. Sie setzte sich auf die Fensterbank und schaute nach draussen, in den Hinterhof. Der suppige Himmel hing schwer über den Dächern, die die grau-braune Rasenfläche umrahmten und stumm aus ihren vielen, dunklen Augenhöhlen auf sie herab blickten. Ihr Blick schweifte nach links zu den vielen, bizarren Gebilden, die den Vorplatz des Nachbarhauses bevölkerten. Kupferdraht, rostige Rohre, ausgediente Küchengeräte, alte Balkongeländer, alles war zu kleinen und grösseren Konstrukten zusammengefügt, die ihre drahtigen Arme austreckten, oder ihre Rohr-Beine hoben, wie zum Tanz. Mar entdeckte eine Skulptur, die sie zuvor noch nie gesehen hatte. Sie stand sehr weit hinten und wurde grösstenteils von den anderen verdeckt. Aus dieser Distanz konnte Mar lediglich sehen, dass es sich um ein verschlungenes Knäul aus verbogenen Rohren, Metallstangen und jeder Menge, dickem Kupferdraht handeln musste. Was sie allerdings deutlich erkennen konnte, war das orange-rote Bonanza-Rad, das seitlich, an das Metall-Knäul angemacht war. Zurechtgebogenen Rohre schlossen sich wie Fangarme um das Fahrgestell und drohten es in seine Mitte hereinzuziehen und es sich einzuverleiben. Mar schauderte. NIcht der Anblick der Skulptur liess sie erschauern. Viel mehr war es das Fahrrad, dessen blendendes Orange Erinnerungen aus ihrem Unterbewusstsein fischte, an die sie sich schon lange nicht mehr hingegeben hatte. 

Mar hatte genau so ein Fahrrad besessen. Ihr Vater hatte ihr beigebracht darauf zu fahern, in dem er das Fahrrad am Gepäckträger festhielt und, Balance-Probleme ausgleichend, mitrannte. Es war Frühling gewesen oder Sommer. Auf jeden Fall war es warm gewesen und Mar konnte sich an vielerlei Vogelstimmen erinnern, welche die Szenerie begleiteten. Mar trat in die Pedale und ihr Vater rannte mit, auf jeden Fall dachte sie das. Als sie sich nämlich umdrehte, hatte ihr Vater losgelassen, ohne dass Mar es bemerkt hatte. Sie fuhr! Ganz alleine! Sie hatte gelacht und sich nocheinmal umgedreht. Sie konnte gerade noch sehen wie ihr Vater, auf der Kreuzung, auf der er stehengeblieben war, von einem rasenden Auto erfasst wurde. Dann war er verschwunden.

Mars Vater hatte sich nie wieder von diesem Unfall erholt. Nie mehr war er derselbe Mann gewesen. Das der Autofahrer, der sich mit einem anderen im ruhigen Wohngebiet ein Rennen geliefert hatte, zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde und Mars Vater Schadensersatz bekam, war ein schwacher Trost für ein Leben im Rollstuhl. Dieser Tag war die letzte fröhliche Erinnerung, die Mar an ihren Vater hatte.