Simultan

Der Streich

Aus Simultan

Version vom 9. Januar 2009, 10:14 Uhr von LarsG (Diskussion | Beiträge)

Ein heftiges Gewitter zieht über den Ort. Es ist Mittwochmorgen, Marianne hat sich eben die Haare gewaschen. Es ist ruhig im Haus. Die Blätter im Garten fallen schnell hinunter, sie werden vom Wind an die Hauswand geklatscht. Marianne überlegt sich, was sie mit dem angebrochenen Tag anfangen soll. Sie geht im Haus umher. Plötzlich hat sie eine Idee: Sie könnte im Estrich in alten Sachen herumstöbern. Eigentlich wollte sie das Chaos dort oben ja schon lange aufräumen, doch nie hatte sie die Zeit oder Lust dazu. Sie geht in den ersten Stock des Hauses und lässt die ausziehbare Leiter hinunter, die durch eine Luke in den Estrich führt. Es ist schummrig dort oben, nur eine einzige Glühbirne gibt Licht. Sie kämpft sich zwischen Kartonschachteln und allerlei herum liegenden Gegenständen hindurch, bis sie zu einem Kleiderständer kommt. Er ist aus Metall und deutet in der Form den Körper einer Frau an. Marianne kaufte ihn einmal mit Roger in Südfrankreich, als sie dort im Urlaub waren. Es war in Cannes auf einem Touristenmarkt. Vor genau zwölf Jahren. Die Kinder waren damals noch klein, sie schliefen im Hotelzimmer der Eltern, auf Extrabetten. Vier Tage waren sie in der Stadt.
Marianne geht weiter und kommt an den Kartons mit Franks Modelleisenbahn vorbei. Auf einem Regal dahinter an der Wand stehen alte Bücher, die niemand mehr lesen will. Dann öffnet Marianne eine Schachtel mit alten Kleidern. Eine Motte fliegt ihr entgegen. Da sind Pullover und Jeans der Kinder, mit denen sie einmal Tag für Tag in den Kindergarten und in die Schule gingen. Roger hatte zu Marianne gesagt, sie solle die alten Klamotten doch wegschmeissen. Doch Marianne hatte es nicht übers Herz gebracht. Sie dachte, vielleicht würden sich die Kinder eines Tages freuen, wenn sie ihre Babyklamotten zu sehen bekämen. In der hinteren rechten Ecke des Estrichs befinden sich alle alten Schulsachen von Marianne und Roger. Marianne kniet auf den Boden und öffnet einen der Schuhkartons. Alte Hefte, in Schnürchenschrift angeschrieben, und Schulbücher liegen darin: Geometrie 1, Deutsche Grammatik. Sie nimmt einige der Sachen aus dem Karton und staunt, als sie die Hefte durchblättert, wie gut sie sich noch an einzelne Aufgaben und Übungen erinnern kann. So als wäre es erst gestern gewesen.
Zwischen den Schulbüchern taucht ein anderes Buch auf. Es ist angeschrieben mit “Meine Freunde“. Es ist ein Comic mit drei Mädchen darauf abgebildet. Sie haben alle langes Haar. Marianne öffnet das Buch und blättert von vorne durch: Da ist Martina, die ihr das Sprüchlein “Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur“ reingeschrieben hat. Oder Franziska, mit der sie immer ABBA-Platten hörte und die sie deshalb eine “Dancing Queen“ nannte. Und dann ist da noch Petra, die ihr ein kleines Fahrrad auf die Seite gezeichnet hat. Es sieht sie mit Augen an, die zu sagen scheinen: Ich weiß, was du getan hast. Marianne bemüht sich, an etwas anderes zu denken. Dass sie jetzt doch erwachsen wäre und wisse, dass Fahrräder keine Augen haben. Doch die Erinnerung lässt sie nicht mehr los.
Es war an einem Mittwochnachmittag, nach der Schule. Sie gingen zusammen in die Badeanstalt. Marc war ein Junge in der sechsten Klasse. Beide, Petra und Marianne, standen auf ihn. Auch er war in der Badeanstalt und machte mutige Sprünge vom Dreimeterbrett. Marianne und Petra standen daneben und bewunderten ihn. Sie tuschelten etwas und beschlossen dann, dass sie irgendwie auf sich aufmerksam machen mussten. Sie legten sich wieder auf ihre Handtücher und heckten einen Plan aus. Sie wollten das Fahrrad von Marc stehlen, es an einen geheimen Ort bringen und dafür Lösegeld fordern. Sie zogen sich also an und gingen zu den Fahrrädern vor der Badeanstalt. Sie wussten genau, welches Marcs war. Er hatte es nicht abgeschlossen, denn niemand schloss damals sein Fahrrad ab. In einer schnellen Bewegung nahmen sie es und spazierten damit von der Badeanstalt weg. Sie hinterliessen einen Zettel, auf dem stand: “Um 19 Uhr beim alten Bahnhof. Lösegeld 50 Franken.“
Petra und Marianne gingen zum alten Bahnhof und warteten. Es war kurz nach 18 Uhr. Sie wussten, dass Marc sich jetzt langsam auf den Weg nachhause machen würde. Plötzlich tauchte er auf der schnurgeraden Strasse auf, aber er war nicht alleine. Neben ihm ging ein Polizist. „Halt!“, rief dieser, als sich Marianne und Petra schon davon machen wollten. „Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?“, sagte der Polizist, als er bei ihnen und dem Fahrrad ankam. Marc stand neben ihm und schwieg.
„Es sollte nur ein Spass sein“, sagte Martina mit schüchterner Stimme.
„Das ist Diebstahl“, sagte der Polizist.
„Sagen Sie es jetzt unseren Eltern?“, fragte Petra.
„Nicht wenn ihr euch bei mir entschuldigt“, sagte Marc.
„Na gut“, sagten Marianne. „Es tut uns Leid. Wir wollten eben nur, dass du uns mal beachtest…“
„Das ist euch aber gründlich gelungen“, sagte der Polizist.

Marianne blättert weiter im Buch. Da ist Rebekka, mit der sie später Tennis spielte. Sie war die Freundin von Marc und verbrachte viel Zeit mit Marianne, obwohl sie zwei Jahre älter war als sie. Marianne blättert immer schneller und liest die Sprüche und Wünsche ihrer Freundinnen nur noch quer. Dann legt sie das Buch zurück, verschliesst die Kiste und geht zur Leiter.