Simultan

Nackt

Aus Simultan

Version vom 7. November 2008, 12:57 Uhr von LarsG (Diskussion | Beiträge)

Marianne geht nackt auf der Zeppelinstrasse. Sie befürwortet von ihrem eigenen Prinzip her alles, was nicht ihren Vorgaben entspricht. Sie lebt nicht im Konvent. Sie lebte. Schwester Ursula. Namen sind Konventionen. Jetzt gehört sie einem anderen Zusammenschluss an. Sie war in schwarzes Tuch gekleidet. Ging auf den langen Gängen. Kreuzweise, denkt sie heute, wenn ihr jemand auf die Nerven geht. Empfing Gäste, zweimal pro Woche. So oft durfte sie raus. Spazieren gehen. Auf dem Hügel hinter dem Haus. Sass mit den Gästen in einem der Gästezimmer. Trank Apfelsaft, verdünnt. Armut war Gebot. Ihr Zimmer durfte sie niemandem zeigen. Nicht einmal ihrem geistlichen Begleiter. Um fünf Uhr das erste Gebet. Jeden Tag. Dann frühstücken, lesen, beten, Blumenbeete pflegen, beten, essen, beten. Sie wurde bleicher und bleicher. Eine NORMALE Erscheinung bei Schwestern. Sie ging nie durch den unterirdischen Gang zu den Männern. Im Winter lag Schnee auf den hohen Türmen. Eine Schule, eine Sammlung gab es. Tote Tiere. Junge Dinger.
Marianne geht nackt in den Laden. Sie wird von Videokameras gefilmt. Das ist kein Porno. Sie nimmt einen Schokoriegel und ein Getränk aus dem Regal. Sie bezahlt in Naturalien. Frau Stocker schaut ihr nach. Dann geht sie in die “ModEsteria“, zu Ester Schneiter. Keine Schneiderin.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragt die Schneiter.
„Sieht man das nicht?“, sagt Marianne.
„Sie brauchen Klamotten“, sagt die Schneiter.
„Nein“, antwortet Marianne.
„Was brauchen Sie dann?“
„Eine Blume.“
„Wozu brauchen Sie eine Blume?“
„Um sie mir ins Haar zu stecken…“
„Wir führen keine Blumen.“
„Was führen Sie denn?“
„Eine Kleiderkollektion.“
„Und wo kriege ich meine Blume?“
„Vielleicht in einem Blumenladen.“

Marianne verlässt das Geschäft, immer noch nackt. Die Leute schauen ihr nach und zeigen mit dem Finger auf sie. Einige nehmen ihr Handy hervor und fotografieren sie. Das ist kein Porno. Andere rufen die Polizei. Sie geht auf der Untergasse, bis sie zur Seevorstadt kommt. Dort bleibt sie an der Bushaltestelle stadteinwärts stehen. Die Menschen in den vorbei fahrenden Autos schauen sie mit offenem Mund an. Als ob sie noch nie eine nackte Frau gesehen hätten.