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Stoppen im Nirgendwo - un arrêt imprévu: Unterschied zwischen den Versionen

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Vater bekommt manchmal Freikarten vom Direktor. Wir fuhren in der Nacht. Irgendwann hielt Vater an einem Provinzbahnhof. Ich war so stolz, dass wir mit unserem schnellen, modernen Zug fahren würden – und er hielt! Vater, warum?, fragte ich. Das ist so. Ich war 18, aber Vater behandelt mich seit jeher gleich. Wie ein Kind, das keine Fragen stellen sollte. Ich schwieg.
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Vater bekommt manchmal Freikarten vom Direktor. <br>
  
Wir passierten die Grenze. Die Beamten plauschten kurz mit Vater, dann gingen sie durch den Zug. Kurz darauf fuhren wir weiter. Ob es denn keine Zollkontrollen gebe, fragte ich Vater. Doch, doch, manchmal. Aber heute sei eben mein Glückstag.
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Früher habe ich immer gebettelt, mitfahren zu dürfen, und manchmal nahm er mich mit, ich schlief dann in der Führerkabine, im Wissen, dass mein Vater die ganze Nacht über mich wachte. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal mitgefahren bin, ich glaube, wir haben beide keine Lust mehr, miteinander die ganze Nacht in der Führerkabine zu verbringen, doch: Vater kam heute früh zu mir, bevor ich ging, um... und er spricht selten zu mir, er sagte nur: Morgen! Morgen kommst du mit, und ich nickte und er war fort.<br>
  
Wir fuhren eine Weile. Langsam ging draußen die Sonne auf. Ich blickte aus dem Fenster. Das Morgenlicht warf lange Schatten auf Vaters Gesicht. Er sah müde aus. Die ständigen Wechsel, tags fahren, nachts fahren. Ich verlor mich in Gedanken. Plötzlich hielt der Zug. Fünf Minuten. Vater? Er raunzte mich an. "Das ist eben so!" "Du immer mit meinen dummen Fragen!"
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Wir fahren in der Nacht. Ich schaue mich erstaunt überall um, ich sehe das winzige Lavabo, wir stehen und rauchen.<br>
  
Dann setzte sich unsere Fahrt fort. Ich verließ die Fahrerkabine und ging den Gang auf. Die Räume dufteten nach Rasierwasser. Trockenschampoo, Haarspray. Die meisten Leute sprachen Russisch. Und viele warfen Plastiktüten aus dem Fenster! Da waren wir in Polen, in Europa, verdammt, und sie warfen große schwarze Säcke aus dem langsam fahrenden Zug. Was zum Teufel? … <br>
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An einem Provinzbahnhof hält der Zug. Ich öffne das Fenster, zünde mir eine Zigarette an. Es ist Dunkel, ich erkenne kein Schild. Ein sehr kleiner Bahnhof muss das sein. Die neuen, schnellen, ach so modernen Züge - und dann halten sie in einem solchen Loch, wo der Bahnsteig unbeleuchtet ist, wo - mitten in der Nacht schon gar nicht - keiner zu- und aussteigt? Ich rauche zu Ende, drücke die Zigarette aus, stolpere zum Führerhaus, die Tür stand offen, Vater schaute angestrengt auf seinen Monitor.
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- Vater, warum hältst du hier? Da steigt keiner zu.
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Vater drehte sich nicht nach mir um, seine Antwort war unwirsch, er sprach wie zu einem Kind, er spricht zu mir immer wie zu einem Kind, er weiss nicht, dass ich seit drei Monaten volljährig bin.
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- Warum schläfst du nicht? Es geht dich nichts an. Du solltest keine Fragen stellen. Ich bin der Zugführer.
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Ich schweige, bleibe aber im Türrahmen stehen. Wir fahren weiter. Vater schaut in die Nacht, ich setze mich auf die kleine Pritsche hinter seinem Sessel, ich nicke ein, erwache erst, als wir erneut anhalten: Wir passieren die Grenze. Draussen sprechen die Beamten miteinander, ich höre die Stimme meines Vaters Gang, ich weiss, jetzt durchsuchen die Beamten den Zug, es ist die Grenze.
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Es dauert nicht lange, und wir fahren weiter. Vater kommt zurück, er sieht ein wenig angespannt aus, bleich, er ist ein alter Mann geworden.
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- Gibt es denn keine Zollkontrollen?
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- Manchmal. Heute ist dein Glückstag. Hast du Feuer?<br>
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- Aber keine Zigaretten.
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Wir fahren. Die Sonne geht auf. Das Morgenlicht wirft lange Schatten auf Vaters Gesicht. Er sieht müde aus. Die ständigen Wechsel, tags fahren, nachts fahren, vielleicht geht er bald in Pension. Ich will kein Lokführer sein.&nbsp;
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Der Zug hält, ich liege auf der Pritsche, im Halbschlaf.
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- Sind wir da? Wir können doch noch nicht da sein.
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- Er hält nur kurz, fünf Minuten, und es geht weiter.
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- Das ist eben so! Hör auf zu fragen!<br>
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Ich verlasse die Führerkabine, ich will mir das Gesicht waschen und mein Zeug aus der Kabine holen. . Die Räume dufteten nach Rasierwasser. Trockenschampoo, Haarspray. Die meisten Leute sprachen Russisch. Und viele warfen Plastiktüten aus dem Fenster! Da waren wir in Polen, in Europa, verdammt, und sie warfen große schwarze Säcke aus dem langsam fahrenden Zug. Was zum Teufel? … <br>

Version vom 14. Oktober 2011, 11:43 Uhr

Vater bekommt manchmal Freikarten vom Direktor.

Früher habe ich immer gebettelt, mitfahren zu dürfen, und manchmal nahm er mich mit, ich schlief dann in der Führerkabine, im Wissen, dass mein Vater die ganze Nacht über mich wachte. Ich weiss nicht, wann ich das letzte Mal mitgefahren bin, ich glaube, wir haben beide keine Lust mehr, miteinander die ganze Nacht in der Führerkabine zu verbringen, doch: Vater kam heute früh zu mir, bevor ich ging, um... und er spricht selten zu mir, er sagte nur: Morgen! Morgen kommst du mit, und ich nickte und er war fort.

Wir fahren in der Nacht. Ich schaue mich erstaunt überall um, ich sehe das winzige Lavabo, wir stehen und rauchen.

An einem Provinzbahnhof hält der Zug. Ich öffne das Fenster, zünde mir eine Zigarette an. Es ist Dunkel, ich erkenne kein Schild. Ein sehr kleiner Bahnhof muss das sein. Die neuen, schnellen, ach so modernen Züge - und dann halten sie in einem solchen Loch, wo der Bahnsteig unbeleuchtet ist, wo - mitten in der Nacht schon gar nicht - keiner zu- und aussteigt? Ich rauche zu Ende, drücke die Zigarette aus, stolpere zum Führerhaus, die Tür stand offen, Vater schaute angestrengt auf seinen Monitor.

- Vater, warum hältst du hier? Da steigt keiner zu.

Vater drehte sich nicht nach mir um, seine Antwort war unwirsch, er sprach wie zu einem Kind, er spricht zu mir immer wie zu einem Kind, er weiss nicht, dass ich seit drei Monaten volljährig bin.

- Warum schläfst du nicht? Es geht dich nichts an. Du solltest keine Fragen stellen. Ich bin der Zugführer.

Ich schweige, bleibe aber im Türrahmen stehen. Wir fahren weiter. Vater schaut in die Nacht, ich setze mich auf die kleine Pritsche hinter seinem Sessel, ich nicke ein, erwache erst, als wir erneut anhalten: Wir passieren die Grenze. Draussen sprechen die Beamten miteinander, ich höre die Stimme meines Vaters Gang, ich weiss, jetzt durchsuchen die Beamten den Zug, es ist die Grenze.

Es dauert nicht lange, und wir fahren weiter. Vater kommt zurück, er sieht ein wenig angespannt aus, bleich, er ist ein alter Mann geworden.

- Gibt es denn keine Zollkontrollen?

- Manchmal. Heute ist dein Glückstag. Hast du Feuer?

- Aber keine Zigaretten.

Wir fahren. Die Sonne geht auf. Das Morgenlicht wirft lange Schatten auf Vaters Gesicht. Er sieht müde aus. Die ständigen Wechsel, tags fahren, nachts fahren, vielleicht geht er bald in Pension. Ich will kein Lokführer sein. 

Der Zug hält, ich liege auf der Pritsche, im Halbschlaf.

- Sind wir da? Wir können doch noch nicht da sein.

- Er hält nur kurz, fünf Minuten, und es geht weiter.

- Vater? 

- Das ist eben so! Hör auf zu fragen!

Ich verlasse die Führerkabine, ich will mir das Gesicht waschen und mein Zeug aus der Kabine holen. . Die Räume dufteten nach Rasierwasser. Trockenschampoo, Haarspray. Die meisten Leute sprachen Russisch. Und viele warfen Plastiktüten aus dem Fenster! Da waren wir in Polen, in Europa, verdammt, und sie warfen große schwarze Säcke aus dem langsam fahrenden Zug. Was zum Teufel? …