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Yegor sitzt schon seit Pilawa fertig angezogen auf der Pritsche, das Macbook Air liegt aufgeschlagen auf der kleinen Ablage neben dem Bett. | Yegor sitzt schon seit Pilawa fertig angezogen auf der Pritsche, das Macbook Air liegt aufgeschlagen auf der kleinen Ablage neben dem Bett. | ||
− | Als der Schaffner vorbeikommt, | + | Als der Schaffner vorbeikommt, kauft Yegor einen Becher heissen Tee, trinkt in kleinen Schlucken, schreibt weiter, ohne noch einmal aufzublicken, bis die schepprige Durchsage ertönt: Warszawa Centralna, bitte alle aussteigen. Es ist kurz vor neun. Yegor knüllt den Pappbecher zusammen, stopft ihn zwischen Sitz und Abteiltür und verlässt sein Abteil. Das Innere des Zugs ist jetzt voller Bewegung wie in der Nacht, der Zug erwacht, doch nun auf eine trägere Weise, es ist ein behäbiges Erwachen, aber eines, das sich seiner Sache sicher ist. In den Gesichtern auf den engen Gängen ist die Erleichterung, dass die Fahrt nun zu Ende ist, die Fahrgäste freuen sich auf frische Luft, sie können das Getümmel des Bahnhofs kaum noch erwarten. Ganz kurz nur sieht Yegor den Jungen vom Lokführer hinter einigen massigen Männern verschwinden, er hätte ihn gern verabschiedet, aber da ist er schon weg; Yegor reiht sich bei den Wartenden ein, setzt sein leeres, unbeteiligtes Gesicht auf und bemüht sich, jedes Wort zu behalten, das er noch aufschnappen kann. Doch die Morgengespräche sind nichtssagend und schleppend; nicht wie jene in der Nacht. Der Zug bremst, kommt zum Stillstand; Kindergeschrei, Yegor hilft einer alten Frau beim Aussteigen, dann steht er in der Kälte, atmet den Bahnhof, der riecht wie alle grossen Bahnhöfe; willkommen, Warszawa Centralna. Der Strom der Aussteigenden führt die einzelnen direkt zu den Ausgängen, auch die Unwissenden gehen blind, ohne sich nach Beschilderungen umzusehen. |
Yegor braucht Kaffee, nichts dringender als Kaffee und später vielleicht eine Zahnbürste. Der Passagierstrom schwappt zum grossen Kiosk am Perronkopf, dort teilt er sich auf und führt nun in alle Richtungen weiter. Yegor stellt sich an, kramt sein Geld hervor.<br> | Yegor braucht Kaffee, nichts dringender als Kaffee und später vielleicht eine Zahnbürste. Der Passagierstrom schwappt zum grossen Kiosk am Perronkopf, dort teilt er sich auf und führt nun in alle Richtungen weiter. Yegor stellt sich an, kramt sein Geld hervor.<br> | ||
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Die Frau öffnet die Augen, dreht sich zu ihm hin. Yegor erwidert den Blick, er weiss, dass er verknittert aussieht, aber die Frau fragt gut gelaunt und nur leicht spöttisch: Ein Tourist? | Die Frau öffnet die Augen, dreht sich zu ihm hin. Yegor erwidert den Blick, er weiss, dass er verknittert aussieht, aber die Frau fragt gut gelaunt und nur leicht spöttisch: Ein Tourist? | ||
− | Yegor | + | Yegor hat keine Lust auf Gespräche, er hat nicht ausgeschlafen und sein T-Shirt riecht nicht frisch.<br> |
Ewa spricht eigentlich nie jemanden an, sie ist es, die angesprochen wird. Aber wenn sie nicht in diesem seligen Moment mit jemandem spricht, irgendwem, irgendwas, wird sie platzen; Valerii wird sie frühstens am Dienstag sehen; bis dahin gibt es nur Ewa und das Wissen, ihr Wissen, ihre Bombe, deren Sprengkraft keiner dieser Trottel erahnen könnte, niemand, und dieser Ausländer schon gar nicht, er sieht wahrscheinlich nur ihr Haar und ihren spöttischen Blick, den sie so gut beherrscht. | Ewa spricht eigentlich nie jemanden an, sie ist es, die angesprochen wird. Aber wenn sie nicht in diesem seligen Moment mit jemandem spricht, irgendwem, irgendwas, wird sie platzen; Valerii wird sie frühstens am Dienstag sehen; bis dahin gibt es nur Ewa und das Wissen, ihr Wissen, ihre Bombe, deren Sprengkraft keiner dieser Trottel erahnen könnte, niemand, und dieser Ausländer schon gar nicht, er sieht wahrscheinlich nur ihr Haar und ihren spöttischen Blick, den sie so gut beherrscht. |
Version vom 2. Dezember 2011, 11:43 Uhr
Yegor sitzt schon seit Pilawa fertig angezogen auf der Pritsche, das Macbook Air liegt aufgeschlagen auf der kleinen Ablage neben dem Bett.
Als der Schaffner vorbeikommt, kauft Yegor einen Becher heissen Tee, trinkt in kleinen Schlucken, schreibt weiter, ohne noch einmal aufzublicken, bis die schepprige Durchsage ertönt: Warszawa Centralna, bitte alle aussteigen. Es ist kurz vor neun. Yegor knüllt den Pappbecher zusammen, stopft ihn zwischen Sitz und Abteiltür und verlässt sein Abteil. Das Innere des Zugs ist jetzt voller Bewegung wie in der Nacht, der Zug erwacht, doch nun auf eine trägere Weise, es ist ein behäbiges Erwachen, aber eines, das sich seiner Sache sicher ist. In den Gesichtern auf den engen Gängen ist die Erleichterung, dass die Fahrt nun zu Ende ist, die Fahrgäste freuen sich auf frische Luft, sie können das Getümmel des Bahnhofs kaum noch erwarten. Ganz kurz nur sieht Yegor den Jungen vom Lokführer hinter einigen massigen Männern verschwinden, er hätte ihn gern verabschiedet, aber da ist er schon weg; Yegor reiht sich bei den Wartenden ein, setzt sein leeres, unbeteiligtes Gesicht auf und bemüht sich, jedes Wort zu behalten, das er noch aufschnappen kann. Doch die Morgengespräche sind nichtssagend und schleppend; nicht wie jene in der Nacht. Der Zug bremst, kommt zum Stillstand; Kindergeschrei, Yegor hilft einer alten Frau beim Aussteigen, dann steht er in der Kälte, atmet den Bahnhof, der riecht wie alle grossen Bahnhöfe; willkommen, Warszawa Centralna. Der Strom der Aussteigenden führt die einzelnen direkt zu den Ausgängen, auch die Unwissenden gehen blind, ohne sich nach Beschilderungen umzusehen.
Yegor braucht Kaffee, nichts dringender als Kaffee und später vielleicht eine Zahnbürste. Der Passagierstrom schwappt zum grossen Kiosk am Perronkopf, dort teilt er sich auf und führt nun in alle Richtungen weiter. Yegor stellt sich an, kramt sein Geld hervor.
Direkt neben ihm lehnt eine Frau an einen der Stehtische, sie raucht mit geschlossenen Augen. Yegor ist an der Reihe.
- Kawa, prosze?
Der Mann am Kiosk nickt.
Die Frau öffnet die Augen, dreht sich zu ihm hin. Yegor erwidert den Blick, er weiss, dass er verknittert aussieht, aber die Frau fragt gut gelaunt und nur leicht spöttisch: Ein Tourist?
Yegor hat keine Lust auf Gespräche, er hat nicht ausgeschlafen und sein T-Shirt riecht nicht frisch.
Ewa spricht eigentlich nie jemanden an, sie ist es, die angesprochen wird. Aber wenn sie nicht in diesem seligen Moment mit jemandem spricht, irgendwem, irgendwas, wird sie platzen; Valerii wird sie frühstens am Dienstag sehen; bis dahin gibt es nur Ewa und das Wissen, ihr Wissen, ihre Bombe, deren Sprengkraft keiner dieser Trottel erahnen könnte, niemand, und dieser Ausländer schon gar nicht, er sieht wahrscheinlich nur ihr Haar und ihren spöttischen Blick, den sie so gut beherrscht.
- Kein Tourist. Ich arbeite.
- Du siehst zu müde aus zum Arbeiten.
- Ich komme mit dem Zug von Kiew; ein Schlafzug, aber ich war die ganze Nacht wach.
- Wirklich? Dann waren wir im selben Zug!
Ewa hat automatisch auf russisch gewechselt, als sie Yegors unbeholfenes Polnisch gehört hat; seine wirkliche Herkunft kann sie aber trotz ihrem berufsgeschulten Auge nicht sicher einordnen.
- Was für ein Zufall.
Yegor wird langsam wach, er rührt im Kaffee.
- Hat Ihnen die Reise gefallen?
Ewa lächelt, stellt stattdessen ihre eigene Frage:
- Woher kommen Sie denn?
- Ich war zu Besuch bei meiner Mutter. War schön.
Yegor streckt dem Kioskverkäufer das Geld entgegen ohne hinzuschauen.
- Nehmen Sie auch einen Kaffee zu Ihrer Zigarette?
Ewa nickt, sie denkt an Valerii, und daran, was sie ihm alles wird erzählen können; während sie dem Fremden zusieht, wie er noch einen Kaffee bestellt und bei der Gebäckauslage mit den jämmerlich plastikverschweissten Broten verweilt, denkt sie an ihren Chef. Sie möchte am liebsten auf der Stelle mit jemandem sprechen, doch selbstverständlich nicht mit einem Fremden, wie diesem, wenn er wüsste -
- Wie heissen Sie eigentlich?
Yegor streckt ihr den Becher entgegen, aus einer Serviette wickelt hat er Süssgebäck, und bietet ihr mit einer Handbewegung davon an.
- Yegor.
Auf Yegors dunklem Mantel verteilen sich klebrige Krümel, er wischt sie sogleich weg.
- Ich bin Ewa.
- Ewa, reisen Sie allein?
- Ich wohne hier.
- Haben Sie Kinder?
- Ich arbeite.
Sie schweigen. Yegor scharrt mit den Füssen, nimmt den letzten Schluck Kaffee.
Ewa zündet sich eine neue Zigarette an.
- Yegor, Sie kommen aber nicht aus der Ukraine, oder? Wo leben Sie?
Diese Frage kommt immer früher oder später, und immer ist sie Yegor unangenehm.
- Aus der Schweiz -
- Ich wusste es! Ich habe Sie aus allen anderen heraus erkannt, die Schweizer sind in der Menge besonders leicht zu entlarven. Aber... warum nehmen Sie den Zug? Sie hätten es sich leisten können, zu fliegen!
Yegor lacht.
- Ich bin Journalist.
- Ach. Und Journalisten werden so schlecht bezahlt, dass sie nicht das Flugzeug nehmen können?
- Ich schreibe über das Zugfahren.
Ewa runzelt die Stirn,Yegor zögert einen kurzen Augenblick. Er sollte nicht zu viel verraten. Das ist nicht seine Mat, der er das Wichtigste erzählt, damit sie ihm im Gegenzug alles verrät.
- Eine Reisereportage.
- Aha. Und jetzt? Geht die Reise weiter?
- Ich bleibe einige Tage hier, dann muss ich zurück.
Yegor blickt auf die Uhr.
- Ich muss gehen! Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, alles Gute!
- Wenn ich irgendwie helfen kann...
- Ja?
- Vielleicht wollen Sie zur Sicherheit meine Nummer? Ich meine nur. Warschau ist eine grosse Stadt, wenn man sie nicht kennt.
- Sehr freundlich! Ich rufe Sie kurz an, dann haben Sie auch meine Nummer … ja, das war sie.
Yegor denkt nicht daran, diese Ewa noch einmal anzurufen, auf Schönheiten lässt er sich nicht ein, soviel hat er inzwischen gelernt. Er bedankt sich höflich, mischt sich in neue Ströme, Ewa schaut ihm hinterher, er ist fort.