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Abgewrackte Heimat / Mon origine pourrie: Unterschied zwischen den Versionen

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 277'000 Einwohner. Verkehrsknotenpunkt: Warschau-Kiew, Minsk-Ismail.
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Ich habe nicht verstanden, warum Mutter damals in diesen abgewrackten Ort zurückgekehrt ist. Natürlich, das Leben ist billiger als in der Schweiz, ihre Witwenrente würde für ein würdevolles Leben, wie sie das nennt, nicht reichen.
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Krankenkassenbeiträge, hier Steuern, da Steuern. Pah, hat Mutter gesagt und bezieht jetzt ihr Geld aus der Schweiz und vertrödelt es in der Ukraine. Da lebt sie mit ihrer Schwester in einem alten kleinen Haus am Stadtrand (so schlecht ausgestattet war nicht einmal unsere alte Gartenlaube am Bieler See, Mutter wollte damals ja unbedingt eine Datscha, Vater hat sie geliebt und ich musste meine Sommerferien im Strebergarten verbringen).
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| bgcolor="#669900" | Unweit von Kiew - Pas loin de Kiev <br>
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Sie hat all den alten Kitsch da, den Vater mit den Jahren aussortiert hat. All die gestickten Kissenbezüge, die Teppiche, den Glasschmuck, den Sowjetbilligprunk. Sie trinkt Nescafé, isst irgendwelche Süßigkeiten aus dem Kiosk ums Eck und nennt das ihr würdevolles Leben. Von ihrer Zeit in der Schweiz will sie nichts mehr wissen. Nur dass ich jetzt da bin, ihr Yegorchen. Und dass ich ja auf mich aufpasse!
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Heute hat sie mich durch die Stadt geführt, hat alte Karten gezeigt von früher, von ihrer Kindheit und der Kindheit ihrer Eltern, Großeltern, Schwarzweißfotografien. Die Stadt war Idylle bevor die Autos kamen, die Lastwagen. Die Züge rollen im Stundentakt. Man ist schnell hier, schnell da. Schnell in Kiew oder in Warschau. Mutters Zeit ist relativ, sie ist ukrainisiert, nach den letzten acht Jahren hier wieder angepasst.
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| width="50%" valign="top" | 277'000 Einwohner. Verkehrsknotenpunkt des internationalen Fernverkehrs: Warschau-Kiew, Minsk-Ismail.<br>Sonst nichts.  
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Ich verstehe nicht, warum Mutter damals in diesen abgewrackten Ort zurückgekehrt ist. Natürlich, das Leben ist billiger als in der Schweiz, ihre Witwenrente würde für ein würdevolles Leben, wie sie das nennt, nicht reichen.  
  
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Krankenkassenbeiträge, hier Steuern, da Steuern. Pah, hat Mutter gesagt und bezieht jetzt ihr Geld aus der Schweiz und vertrödelt es in der Ukraine. Da lebt sie mit ihrer Schwester in einem alten kleinen Haus am Stadtrand (so schlecht ausgestattet war nicht einmal unsere alte Gartenlaube am Bieler See, Mutter wollte damals ja unbedingt eine Datscha, Vater hat sie geliebt und ich musste meine Sommerferien im Strebergarten verbringen).
  
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Sie hat all den alten Kitsch da, den Vater mit den Jahren aussortiert hat. All die gestickten Kissenbezüge, die Teppiche, den Glasschmuck, den Sowjetbilligprunk. Sie trinkt Nescafé, isst irgendwelche Süßigkeiten aus dem Kiosk ums Eck und nennt das ihr würdevolles Leben. Von ihrer Zeit in der Schweiz will sie nichts mehr wissen. Nur dass ich jetzt da bin, ihr Yegorchen. Öffentliches Bekenntnis zur Familie, solange wir Gäste haben.
  
Ich hasse Nescafé, aber ich liebe Mutters Essen. Sie hat Freunde eingeladen, ihr Sohn ist da, ein Fest. Der Tisch ist reich gedeckt, ich habe Schweizer Schokolade mitgebracht (die billigste, das merken die eh nicht!), Souvenirkitsch, irgendetwas. Es kommt nur drauf an, zu schenken, egal was. Also sitzen wir zusammen, die ganzen Ivas, Vladimirs, Dimitis, Dimas, mit dem Vodka in der Hand, ihre Frauen, alle sind sie laut, alle wollen sie mir irgendetwas erzählen – und all ihre Geschichten will ich aufs Erzählbare abklopfen. Vielleicht erzähle ich dann Borjas Geschichte, die eines jungen Arbeitslosen, dessen Eltern ihn aushalten (wovon eigentlich?), und der manchmal an die Züge schaffen geht. Als ich frage, was das bedeutet: An die Zügen schaffen gehen, schweigt er verlegen. Du weißt schon, sagt er schließlich. Jemand hebt das Glas: Trinken wir auf die Ukraine, die goldenen Felder, die Kornkammer unser. Trinken wir auf unsere Jugend, die unser Land in eine glückliche Zukunft führen wird. Möge dieses Land, möge unser Volk erstrahlen! Ich kippe den Vodka. Meine Hand unter dem Tisch schreibt hässliche Buchstaben, mehr und mehr Fehler mit jedem Glas.
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Heute hat Mat, Mutter auf Russisch, und so nenne ich sie, seit ich mich erinnere, mich durch die Stadt geführt, hat alte Karten gezeigt. Von ihrer Kindheit und der Kindheit ihrer Eltern, Großeltern, Schwarzweißfotografien. Die Stadt war Idylle bevor die Autos und Lastwagen die Welt eroberten. Dazu die Züge, sie rollen im Stundentakt. Man ist schnell hier, schnell da, sagt Mat. Schnell in Kiew oder in Warschau. Ihre Zeit ist relativ, Mat ist ukrainisiert, nach den letzten acht Jahren vorort resozialisiert.  
  
Am nächsten Morgen brät Mutter Eier, ich sehe das Kaffeepulver auf dem Tisch, im Kühlschrank stehen die Reste von gestern. Mein Kopf schmerzt, ich lasse das Tageslicht nur durch einen schmalen Spalt an meine Augen.  
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[[Gaeste in Zhytomyr / Fête à Zhytomyr|Am Abend kommen Gäste.]]
  
– Sag mal, Mat, was meinte der Borja, mit »an den Zügen schaffen«?
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277 ' 000 habitants. Plaque tournante du trafic international&nbsp;: Varsovie-Kiev, Minsk-Ismail. A part ça, rien.<br>Je ne comprends pas pourquoi ma mère y est revenue. Naturellement, la vie est moins chère qu'en Suisse, sa rente de veuve ne lui suffirait pas pour mener une vie digne, comme elle dit.<br>Prime d’assurance-maladie, impôts ici et là… Pouah&nbsp;! a dit ma mère et elle prend son argent depuis la Suisse pour le gaspiller en Ukraine. Elle vit ici avec sa sœur dans un vieille petite maison sur la plage (tellement mal aménagé notre vieux cabanon de jardin au bord du lac de Bienne, notre mère voulait absolument sa datcha, mon père a apprécié et j’ai dû passer mes vacances d’été dans le jardin).<br>C’est vraiment kitsch. Le père avec les années a fait le tri&nbsp;: toutes les taies d’oreiller brodées, les tapis, les ornements en verre, les accessoires soviétiques… Elle boit du Nescafé, elle mange n’importe quelle saloperie sucrée venant du kiosque du coin et elle appelle ça une vie digne. Elle ne veut plus rien savoir de la Suisse, à part que je suis là maintenant, son Yegorchen.<br>Aujourd’hui Mat - ça veut dire mère en russe, c’est comme ça que je l’appelle depuis que je m’en souviens - m’a montré des vieilles cartes de son enfance et de l’enfance de ses parents, grand-parents, des photos en noir et blanc, évidemment. La ville était idyllique avant que les camions et les voiturent conquièrent le monde. En plus, il y a les trains. Ils roulent à l’heure exacte indiquée sur l’horaire. On doit être ici, on doit être là, dit Mat. Vite à Kiev, vite à Varsovie. Son temps à elle est relatif. Mat s’est ukrainisée après s’être socialisée depuis huit ans dans cette banlieue
  
– Yegor, was meinst du, wovon die Leute hier leben? Von Landwirtschaft – hast du die Preise auf dem Markt gesehen? Ich meine wirklich: begriffen? Von Maschinenbau oder vom Kleiderzusammennähen? Von&nbsp;800 Hrywnja?
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[[Gaeste_in_Zhytomyr_/_Fête_à_Zhytomyr|Ce soir, viennent des invités.]]
  
– Borja macht, was alle jungen Menschen in Zhytomyr&nbsp;machen, die es nicht geschafft haben, das Land zu verlassen. Er bringt&nbsp;Sigareta nach Polen. Malboro bei uns: 66 Cent, in Polen: 1,71 Euro. Wenn du gut bist, kommst du auf 4'000 / 5'000&nbsp;Hrywnja im Monat.<br>
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– Mat, woher weißt du das?
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[[Category:Yegor|Yegor]]
 
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– Hat mir einer erzählt.
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– Wer?
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Mutter beginnt zu pfeifen. Eine schweizerische Unart, in der Ukriane verpönt. Sie tut es für mich – als Gebot zu schweigen. Ich habe schon früh angefangen, meine Mutter in Schwierigkeiten zu bringen, weil ich Dinge weitererzählte, die ich nicht hätte sagen sollen. Später habe ich das zum Beruf gemacht. Und jetzt, jetzt drohte das weiterzugehen. Mutter würde nichts mehr sagen. Borja ebenso. Ich muss in diesen Zug. Recherchieren kann ich später, in der Schweiz. Der KGB würde mir sonst die Story versauen.<br>
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Und das wollen wir nicht.
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– Mutter, wann fahren eigentlich die Züge nach Polen?
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– Keine Ahnung. Was willst du da?
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– Ach, ich bin in der Ukraine einfach noch nie Zug gefahren, ist bestimmt ein Erlebnis …<br>
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Aktuelle Version vom 12. Januar 2012, 18:43 Uhr

-> Ordner: Schengen-Aussengrenze



Unweit von Kiew - Pas loin de Kiev


277'000 Einwohner. Verkehrsknotenpunkt des internationalen Fernverkehrs: Warschau-Kiew, Minsk-Ismail.
Sonst nichts.

Ich verstehe nicht, warum Mutter damals in diesen abgewrackten Ort zurückgekehrt ist. Natürlich, das Leben ist billiger als in der Schweiz, ihre Witwenrente würde für ein würdevolles Leben, wie sie das nennt, nicht reichen.

Krankenkassenbeiträge, hier Steuern, da Steuern. Pah, hat Mutter gesagt und bezieht jetzt ihr Geld aus der Schweiz und vertrödelt es in der Ukraine. Da lebt sie mit ihrer Schwester in einem alten kleinen Haus am Stadtrand (so schlecht ausgestattet war nicht einmal unsere alte Gartenlaube am Bieler See, Mutter wollte damals ja unbedingt eine Datscha, Vater hat sie geliebt und ich musste meine Sommerferien im Strebergarten verbringen).

Sie hat all den alten Kitsch da, den Vater mit den Jahren aussortiert hat. All die gestickten Kissenbezüge, die Teppiche, den Glasschmuck, den Sowjetbilligprunk. Sie trinkt Nescafé, isst irgendwelche Süßigkeiten aus dem Kiosk ums Eck und nennt das ihr würdevolles Leben. Von ihrer Zeit in der Schweiz will sie nichts mehr wissen. Nur dass ich jetzt da bin, ihr Yegorchen. Öffentliches Bekenntnis zur Familie, solange wir Gäste haben.

Heute hat Mat, Mutter auf Russisch, und so nenne ich sie, seit ich mich erinnere, mich durch die Stadt geführt, hat alte Karten gezeigt. Von ihrer Kindheit und der Kindheit ihrer Eltern, Großeltern, Schwarzweißfotografien. Die Stadt war Idylle bevor die Autos und Lastwagen die Welt eroberten. Dazu die Züge, sie rollen im Stundentakt. Man ist schnell hier, schnell da, sagt Mat. Schnell in Kiew oder in Warschau. Ihre Zeit ist relativ, Mat ist ukrainisiert, nach den letzten acht Jahren vorort resozialisiert.

Am Abend kommen Gäste.

277 ' 000 habitants. Plaque tournante du trafic international : Varsovie-Kiev, Minsk-Ismail. A part ça, rien.
Je ne comprends pas pourquoi ma mère y est revenue. Naturellement, la vie est moins chère qu'en Suisse, sa rente de veuve ne lui suffirait pas pour mener une vie digne, comme elle dit.
Prime d’assurance-maladie, impôts ici et là… Pouah ! a dit ma mère et elle prend son argent depuis la Suisse pour le gaspiller en Ukraine. Elle vit ici avec sa sœur dans un vieille petite maison sur la plage (tellement mal aménagé notre vieux cabanon de jardin au bord du lac de Bienne, notre mère voulait absolument sa datcha, mon père a apprécié et j’ai dû passer mes vacances d’été dans le jardin).
C’est vraiment kitsch. Le père avec les années a fait le tri : toutes les taies d’oreiller brodées, les tapis, les ornements en verre, les accessoires soviétiques… Elle boit du Nescafé, elle mange n’importe quelle saloperie sucrée venant du kiosque du coin et elle appelle ça une vie digne. Elle ne veut plus rien savoir de la Suisse, à part que je suis là maintenant, son Yegorchen.
Aujourd’hui Mat - ça veut dire mère en russe, c’est comme ça que je l’appelle depuis que je m’en souviens - m’a montré des vieilles cartes de son enfance et de l’enfance de ses parents, grand-parents, des photos en noir et blanc, évidemment. La ville était idyllique avant que les camions et les voiturent conquièrent le monde. En plus, il y a les trains. Ils roulent à l’heure exacte indiquée sur l’horaire. On doit être ici, on doit être là, dit Mat. Vite à Kiev, vite à Varsovie. Son temps à elle est relatif. Mat s’est ukrainisée après s’être socialisée depuis huit ans dans cette banlieue

Ce soir, viennent des invités.