Simultan

Nadine am Freitag

Aus Simultan

Nadine war zu spät aufgestanden. Das ist typisch für sie, könnte man sagen. Vielleicht ist das typisch für alle Künstler. Und vielleicht war Nadine auch deswegen zu spät aufgestanden, denn sie sieht sich selbst gern als Künstlerin, nicht als bloße Illustratorin, obwohl ihr die Arbeit Spaß macht. Aber irgendwann wird sie ihr eigenes Ding machen, ganz unabhängig die ganze Nacht durcharbeiten und dann bis Nachmittags schlafen. Man würde den Bildern die Nacht ansehen können, und die Augenringe im eigenen Gesicht würden die Ernsthaftigkeit bezeugen, mit der sie ihrem Künstlerdasein nachging.
Heute aber hat sie einen Termin mit einem Verleger. Es sollen Möglichkeiten besprochen werden: Eine Reihe Kinderbücher soll entstehen, in Kooperation mit einer ihr noch unbekannten Autorin, die wohl eben selbst ein Kind bekommen hat und jetzt einen ganz anderen Blick auf die Dinge und deren Wichtigkeit... Literatur sei nicht wichtig, soll sie (vor Enthusiasmus sprühend, stellt Nadine sich vor, und mit fettigen Haaren, weil sie für solche Nichtigkeiten wie Duschen im Moment keine Zeit hatte) gesagt haben, wichtig sei es, den Kindern eine fröhliche Grundlage zu bieten. Spaß muss ihnen das Leben machen, und dazu gehört anscheinend unbedingt ein Buch über einen niedlichen Hasen.
Nadine kippt sich ihren Kaffee über die Bluse, aber sie hat keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Sie hetzt aus dem Haus und durch die gepflasterten Gassen zum Bus. Als Künstlerin besitzt sie kein Auto, sie kann es sich gar nicht leisten.
Schon jetzt, im Oktober, wird warme Luft in den Bus geblasen, und es ist stickig. Nadine kann die Zigaretten, die sie letzte Nacht geraucht hat, in ihrem Haar riechen. Eigentlich müsste man aufhören, denkt sie sich, während sie sich vergewissert, das Päckchen Parisienne auch eingesteckt zu haben. Die Ampeln schalten eine nach der anderen auf rot, die Fahrt dauert lang, länger als sonst, jetzt wartet der Fahrer auch noch auf eine ältere Dame, die von weitem Zeichen macht. Bis die Dame in den Bus eingestiegen ist, hat die Ampel schon wieder auf rot geschaltet. Nadine schaut nicht auf die Uhr.
Fast 20 Minuten zu spät tritt sie in das Büro, in dem die Autorin schon sitzt, die bestiefelten Beine überschlagen, eine Zigarette rauchend. Entschuldigung, der Verkehr, murmelt Nadine und nimmt gleichzeitig wahr, dass ihre eigenen Haare viel ungewaschener sind, als die blondierten der Autorin, deren Name ihr nicht mehr einfällt.
Da stehe ich drüber, denkt sie sich, und setzt sich auf den freien Stuhl. Der Verleger grüßt sie lächelnd aber etwas abwesend – die zwei sind schon mitten im Gespräch.
Ich stelle mir vor: Genialität in der Einfachheit.
Genau in diese Richtung möchte ich gehen. Ich habe schon so viele Ideen.
Nadine kramt die Zigaretten aus ihrer Tasche. Hat jemand Feuer?
Und die Zeichnungen sollten aussehen, als seien sie von Kindern gemacht worden, das gibt Authentizität.
Warum lassen wir sie nicht gleich von Kindern anfertigen. Das wär mal wirklich was Neues.
Eine fantastische Idee.