Simultan

Ein kotzendes Kind / un enfant dégueulant

Aus Simultan

Version vom 11. November 2011, 12:39 Uhr von Wiebkez (Diskussion | Beiträge)

(warum gibt es keine automatische Speicherung für Idioten wie mich? #verdammt)

Dzanna fuhr von Kiew nach Warschau. Das machte sie seit Jahren und seit einiger Zeit nahm sie ihren Sohn mit. 17 Stunden, 13 Minuten hin, 17 Stunden, 13 Minuten zurück. So ungefähr, die Tage flogen gleichmäßig dahin. Die Tage vor dem Fenster, das Leben dahinter.

Arsen, ihr siebenjähriger Sohn, schob eine Garde Plastikpolizisten über seine Beine. Grenzer, aber die Guten. Dzanna hatte ihm erklärt, dass die Grenzer dafür sorgten, dass Arsen jeden Tag etwas zu essen hatte. Deshalb mochte er die Männer. Aber man müsse ihnen entgegenkommen. Jeder tut seinen Teil, sagt Dzanna, und Arsens Teil war es, Zigarettenstangen und Schachteln im Abteil zu verteilen. Er war schmächtig, seine Arme dünn, in der Schule hatten ihn die anderen Kinder deshalb gehänselt. Aber für den Schmuggel war er perfekt. Arsens Geschwister gingen in Kiew zur Schule, er nicht. Stattdessen fuhr er Tag für Tag mit seiner Mutter nach Polen und zurück. Eine Kindheit im Zug und die Züge wurden immer schöner. Mit gepolsterten Abteilen und allerlei Komfort. Die Preise stiegen. Für Leute wie ihn und seine Mutter gab es manchmal Abteile, die von den alten Zügen stammten. Sie waren billiger, sahen ramponierter aus – und vor allem boten sie mehr Verstecke. Arsen kannte alle: Die Leisten am Boden, an der Decke. Arsen wusste, wie man die Lampe demontierte um einzelne Schachteln darunter zu verstecken. Er kannte alle Ecken und Öffnungen in der Toilette und im Waschbecken. Anders als Zuhause durfte man in den Zügen die Toiletten und Waschbecken nicht benutzen. Das hatte Dzanna ihm früh eingeschärft. Arsen hielt sich daran. Statt großen Haufen Menschenscheiße steckten plastiktütenverpackte Zigarettenstangen in den Rohren. Freitag, Glückstag. Dzanna und Arsen teilten das Abteil nur mit zwei alten Frauen. Sie hatten Plastiktüten bei sich, aber nur leere. Während Arsen sich am Abteil zu schaffen machte, blickten sie durch ihn und seine Mutter hindurch und schwiegen. Überhaupt war es ruhig an diesem Tag. Als Arsen fertig war, packte Dzanna ihren Proviant aus. Eine Mutter mit Kind, die im Zug ihre Mahlzeit einnehmen, während sie die Grenze passieren, sind wunderbar unverdächtig. Bei Stichproben – und heute mit den reizenden alten Frauen dazu, sind sie zur Harmlosigkeit verurteilt und die Kontrolleure gehen weiter. Vielleicht scherzen sie mit dem Jungen, aber mehr nicht. Eine Grenzerin kontrollierte die Pässe, gab sie zurück, wünschte eine gute Reise. Was sie denn in Polen wollten, fragte sie noch der Höflichkeit halber. Arsen antwortete, und es klang ein wenig zu sehr wie ein auswendig gelerntes Gedicht, Mutter und er wollten Freunde besuchen. Nur ein, zwei Tage. Die Grenzerin zwinkerte ihm zu: Dann eine gute Reise. Laut Wetterbericht würden sie wunderbares Wetter haben. Dabei fiel draußen Nieselregen und es wirkte nicht, als würde sich das in den nächsten Stunden ändern.


Gut zehn Minuten später war das Mahl aufgebraucht. Arsen hatte sich überfressen. Getrocknetes Obst. Schokolade. Ihm war schlecht. Mutter, ich möchte mich hinlegen, sagte er. Dzanna schüttelte den Kopf, nein, das geht jetzt nicht. Arsen war blass, aber er tat, was Mutter sagte. Beeil dich, sobald alles draußen ist, kannst du schlafen. Arsen schwankte ein wenig, er war langsamer als sonst. Gerade vor der ersten Stadt in Polen warfen Dzanna und er die letzten Beutel aus dem Fenster. Große Beutel wirft man aus dem Fenster, kleine Schachteln verschwanden in und unter der Jacke der Mutter. Arsen staunte, wie dick sie plötzlich aussah, darüber staunte er immer. Er setzte sich neben sie und legte vorsichtig den Kopf gegen ihre Schulter. Pass doch auf, raunzte sie ihn an. Er fuhr zusammen, setzte sich wieder aufrecht, zog die Beine an und legte seinen Kopf darauf. Er warf Dzanna einen kurzen Blick zu. Ein kurzes Würgen, dann erbrach er sich auf den Fußboden des Abteils. Die alten Frauen sahen ihn bestürzt an. Eine reichte ihm ein Taschentuch. Arsen sah seine Mutter fragend an. Mach das weg, flüsterte sie. Und tu es nicht in unsere Toilette. Eine der Alten gab ihm eine Plastiktüte. Mit dem Taschentuch schob er sein Erbrochenes hinein, und verließ das Abteil. Irgendwo in diesem Zug wollte er eine Toilette finden, die man als solche benutzen durfte.