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Ein Schrank voll Süßigkeiten / un placard de douceurs: Unterschied zwischen den Versionen

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Vom Warschauer Hauptbahnhof fuhren Dzanna und Arsen noch eineinhalb Stunden weiter. Der Junge war müde quenglig blass. Dzanna entnervt. Vom Vormittag bis zum frühen Abend des Folgetages blieben sie in Warschau. Dzanna hatte eine Großtante in der Stadt, bei der sie wohnen könnten, das hatte die Großtante vor Jahren einmal gesagt. Seitdem hatte sie regelmäßig Besuch, und verfluchte ihre Einladung. Vor die Tür setzen konnte sie ihre gebetenen Gäste nicht, denn Dzanna gehörte zur Familie. Ganz am Anfang hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, zu Abend. Manchmal war die Großtante mit dem Jungen in die Stadt gegangen und hatte ihm neue Kleider gekauft. Anfangs.   
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| bgcolor="66cccc" | À la maison d'une tante, Varsovie &#124; in der Wohnung einer Tante, Warschau <br>
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Vom Warschauer Hauptbahnhof fuhren Dzanna und Arsen noch eine halbe Stunde weiter. Der Junge war müde quenglig blass. Dzanna entnervt. Vom Vormittag bis zum frühen Abend des Folgetages blieben sie in Warschau. Dzanna hatte eine Großtante in der Stadt, bei der sie wohnen könnten, das hatte die Großtante vor Jahren einmal gesagt. Seitdem hatte sie regelmäßig Besuch, und verfluchte ihre Einladung. Vor die Tür setzen konnte sie ihre gebetenen Gäste nicht, denn Dzanna gehörte zur Familie. Ganz am Anfang hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, zu Abend. Manchmal war die Großtante mit dem Jungen in die Stadt gegangen und hatte ihm neue Kleider gekauft. Anfangs.&nbsp;  
  
 
Nach einiger Zeit machte sich die Großtante rar und ihren Kühlschrank leer. Dzanna und Arsen waren nun oft allein in der Wohnung. Es gab eine Schublade in der Schrankwand, wo die Großtante Süßigkeiten aufbewahrte. Sie waren das einzige, wovon immer genug im Haus war, auch heute noch. Arsen hatte geschlafen und seine Blässe verloren. Dzanna hatte die Wohnung verlassen und an einschlägigen Orten Zigaretten verkauft. Ihr Tagesgeschäft reichte für Nudeln, die sie später in der Wohnung in Fett briet und mit kaltem Tomatenmark servierte. Der Junge aß und aß. Trotzdem blieb er klein und schmächtig. Arsen hatte immer Hunger, er fraß und fraß, manchmal kotzte er. Seit einiger Zeit verdrückte der Siebenjährige doppelt so viel wie seine Mutter. Wenn er weniger aß, wurde er noch dünner.  
 
Nach einiger Zeit machte sich die Großtante rar und ihren Kühlschrank leer. Dzanna und Arsen waren nun oft allein in der Wohnung. Es gab eine Schublade in der Schrankwand, wo die Großtante Süßigkeiten aufbewahrte. Sie waren das einzige, wovon immer genug im Haus war, auch heute noch. Arsen hatte geschlafen und seine Blässe verloren. Dzanna hatte die Wohnung verlassen und an einschlägigen Orten Zigaretten verkauft. Ihr Tagesgeschäft reichte für Nudeln, die sie später in der Wohnung in Fett briet und mit kaltem Tomatenmark servierte. Der Junge aß und aß. Trotzdem blieb er klein und schmächtig. Arsen hatte immer Hunger, er fraß und fraß, manchmal kotzte er. Seit einiger Zeit verdrückte der Siebenjährige doppelt so viel wie seine Mutter. Wenn er weniger aß, wurde er noch dünner.  
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Am Mittag packte Dzanna die Sachen zusammen. Arsen schluckte den Rest der aufgewärmten Nudeln. Beeil dich, er beeilt sich. Sie fahren zum Bahnhof. Nach Hause. Irgendjemand hat gesagt, nächste Woche wird das Wetter schlechter. Ein Schweizer Politiker, ein Herr Wichtig, nein, Walter, irgendwie so, wird die Grenzkontrollen besichtigen. Gewitter. Nächste Woche müssten Dzanna und Arsen zu Hause bleiben.  
 
Am Mittag packte Dzanna die Sachen zusammen. Arsen schluckte den Rest der aufgewärmten Nudeln. Beeil dich, er beeilt sich. Sie fahren zum Bahnhof. Nach Hause. Irgendjemand hat gesagt, nächste Woche wird das Wetter schlechter. Ein Schweizer Politiker, ein Herr Wichtig, nein, Walter, irgendwie so, wird die Grenzkontrollen besichtigen. Gewitter. Nächste Woche müssten Dzanna und Arsen zu Hause bleiben.  
  
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Version vom 16. Dezember 2011, 12:10 Uhr

À la maison d'une tante, Varsovie | in der Wohnung einer Tante, Warschau


Vom Warschauer Hauptbahnhof fuhren Dzanna und Arsen noch eine halbe Stunde weiter. Der Junge war müde quenglig blass. Dzanna entnervt. Vom Vormittag bis zum frühen Abend des Folgetages blieben sie in Warschau. Dzanna hatte eine Großtante in der Stadt, bei der sie wohnen könnten, das hatte die Großtante vor Jahren einmal gesagt. Seitdem hatte sie regelmäßig Besuch, und verfluchte ihre Einladung. Vor die Tür setzen konnte sie ihre gebetenen Gäste nicht, denn Dzanna gehörte zur Familie. Ganz am Anfang hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, zu Abend. Manchmal war die Großtante mit dem Jungen in die Stadt gegangen und hatte ihm neue Kleider gekauft. Anfangs. 

Nach einiger Zeit machte sich die Großtante rar und ihren Kühlschrank leer. Dzanna und Arsen waren nun oft allein in der Wohnung. Es gab eine Schublade in der Schrankwand, wo die Großtante Süßigkeiten aufbewahrte. Sie waren das einzige, wovon immer genug im Haus war, auch heute noch. Arsen hatte geschlafen und seine Blässe verloren. Dzanna hatte die Wohnung verlassen und an einschlägigen Orten Zigaretten verkauft. Ihr Tagesgeschäft reichte für Nudeln, die sie später in der Wohnung in Fett briet und mit kaltem Tomatenmark servierte. Der Junge aß und aß. Trotzdem blieb er klein und schmächtig. Arsen hatte immer Hunger, er fraß und fraß, manchmal kotzte er. Seit einiger Zeit verdrückte der Siebenjährige doppelt so viel wie seine Mutter. Wenn er weniger aß, wurde er noch dünner.

Der frisst mir die Haare vom Kopf, dachte Dzanna. Wieder und wieder.

Für die siebzehnstündige Rückreise am nächsten Tag blieb kaum etwas zu essen. Einen Teil der Nudeln würde sie vor dem Jungen zurückhalten, um sie als Wegzehrung mitzunehmen. Eine Handvoll Süßes stahl sie aus der Schublade.

Die heilige Schublade, die goldene: kleine Schokoladenpralinen in Goldpapier gewickelt. Arsen glaubte, dass die Großtante diese Schublade nur für ihn füllte. Für Mutter waren sie nicht.

– Aber der Junge, der Junge kann nichts dafür.

Am Mittag packte Dzanna die Sachen zusammen. Arsen schluckte den Rest der aufgewärmten Nudeln. Beeil dich, er beeilt sich. Sie fahren zum Bahnhof. Nach Hause. Irgendjemand hat gesagt, nächste Woche wird das Wetter schlechter. Ein Schweizer Politiker, ein Herr Wichtig, nein, Walter, irgendwie so, wird die Grenzkontrollen besichtigen. Gewitter. Nächste Woche müssten Dzanna und Arsen zu Hause bleiben.