Simultan

Die zwei Gesichter der Irina T.

Aus Simultan


Irinas Blick. Alt, schwach, enttäuscht. Ihre sonst so erhabene Haltung. Nun stand sie da, mit hängenden Schultern, kraftlos, zitternd. Welch ein Genuss, welch ein Triumph für Daisy, dachte Irina. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre ausdruckslosen Blicke. Genug, um zwischen diesen beiden gescheiterten, von Schmerz und Wut zersetzten Existenzen alles zu klären. Nur ein Wimpernschlag war nötig gewesen, um sich einander ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sich gegenseitig die entscheidenden Szenen anzuvertrauen, in denen sich ihre Seelen von der Welt verabschiedet hatten, in denen sie sich entschlossen hatten, der Welt eine Fassade zu präsentieren, um ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Irina erkannte sich in den Augen von Daisy, einer Frau, die rein oberflächlich betrachtet nicht unterschiedlicher sein konnte. Sie hatte das Gefühl, sich überhaupt zum ersten Mal im Leben zu sehen. Ihre langen, schwarzen Haare, die sie professionell immer zum Knoten gedreht oder hochgesteckt trug, sah sie nun zart gewellt ihren Kopf umspielen, die eine Strähne, die sie jeden Morgen minutenlang bändigen musste, weil sie sich kringelte wie der Schwanz eines kleinen Kätzchens, das sich selbst jagt. Ihre harten Gesichtszüge, verstärkt von der strengen Frisur, dem dunklen Rouge und dem roten Lippenstift mit dem bläulich-kalten Unterton, lösten sich auf, gaben zartrosa Wangen Preis, hellrosa Lippen, fast so, wie man sie in den 60ern mit einer Schicht Penatencreme künstlich herzustellen versuchte. Der metallisch glänzende, anthrazitfarbene Anzug mit dem dunkelroten Seidentop, welches sie daruntertrug, wurde plötzlich wie unter der Berührung eines Feenstabes im Cinderella-Märchen durch ihre alte rosenholzfarbene Strickjacke ausgetauscht, für die Irina sich schämte, weil der rechte Ärmel von den Rangeleien mit ihrem Kater zerkaut war, und nur  noch in Fetzen am Rest des Stoffes hing. So, wie ihr Innerstes nur noch an überstrapazierten Bändern mit ihrem übrigen Dasein verbunden war. Die an den Mundwinkeln eingefurchten Linien in Irinas Gesicht, die ihrer Mimik etwas Unnachgiebiges verliehen, wurden zu Lachfalten, welche sich eingeprägt hatten, als sie, in ihre Wolldecke eingekuschelt, unter dem Schutz der Holzbalken in ihrem Elternhaus, welche immer diesen wohligen Holzduft verbreiteten, der sie auch heute noch den Besuch eines Baumarktes geniessen liess, in ein Buch versunken, mitten in der Nacht lauthals auflachte und sich minutenlang nicht beruhigen konnte, weil sie sich zu sehr über diese Zeilen amüsierte: "Laptantidel Latuda, Sie wurden dabei gesehen, wie Sie, die zamonische Nationalhymne singend, sich in einen Breifkasten übergaben." Irina Trepkowitz wurde in den Augen von Daisy zu einem süssen, lebensfrohen Mädchen. Und es war ihr egal, sie fand es nicht einmal unangenehm, fast wollte sie grinsen, wie wenn man gerade bei einer Lüge ertappt wurde. Ein warmes, fast vergessenes Gefühl überkam sie, konnte es vielleicht so etwas wie Freundschaft sein? Freundschaft entsteht zuweilen unter den seltsamsten Umständen,, dachte Irina. In der Türe des Kraftraums stehend, um den Mann kämpfend, der seit ewigen Sekunden blutend vor ihnen lag .

Sie stand. Schaute hinab auf das wunderschöne, dieses göttliche Gesicht. In dem eine schwarze Stange lag, ein rot glänzender See ringsherum wuchs. Weiße Inseln schwammen Zähne in den Wellen. Glucksende Laute. Panisch aufgerissene Augen. Irina konnte sich nicht bewegen. Starrte auf die zappelnde Gestalt unter ihr.
Dann schrie sie. Schritte polterten, ein Mann kam in den Raum gerannt. "Verdammt!" zischte er, packte mit beiden Händen die Stange und zerrte sie von dem Körper. Donnernd schlug sie auf den Boden. Seine dicken Hände zuckten hinab, hielten zitternd Zentimeter vor Matteos blutüberströmten Gesicht. Matteo kreischte. Blut spritzte dem Mann ins Gesicht. Er schrie zurück. Minutenlang fuchtelten sie beide mit den Händen in der Luft herum, der Mann über den liegenden Matteo gebeugt.
Absurd, dachte Irina. Vor ihr zwei Männer, inzwischen beide blutüberströmt, die sich anschrien. Der eine verwundet, vielleicht schwer. Dahinter diese Frau, sie stand stumm, genau wie sie selbst. Schaute auf die beiden Männer auf der Bank. Das gequollene rotzverschmierte Gesicht ausdruckslos.
Warum sich bewegen. Warum etwas tun.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es gab nichts zu tun. Dort lag er aber sie hatte keinen Wunsch ihm zu helfen.
Sie wusste nicht, was passiert war. Aber etwas war vorbei. Sie schaute auf, schaute Daisys Augen. Schaute zum ersten Mal sie an um zu verstehen. Um die Wahrheit zu verstehen über diese Frau. Was war es, was ihr Angst eingejagt hatte? Was sie verurteilen wollte in dieser Person? Was sagte ihre Kleidung, ihr Gestank, ihre Gesten?
Unter fettig glänzenden Locken schauten Daisys Augen zurück. Sie waren leer. Sie zeigten nichts. Als wüsste sie, was Irina versuchte, verzogen sich Daisys Lippen zu einem schmalen Lächeln. Sie hob die Hände, hielt sie ihr geöffnet hin als wollte sie ihr etwas geben. Doch nichts lag auf den glatt gestreckten Handflächen. Daisy machte einen Schritt in Irinas Richtung, ihre Augen forderten sie auf und mit der einen Hand machte sie eine Geste als wollte sie sagen, hier, bitte nimm.
Kein Spott in den verkrusteten Gesichtszügen.
Irina merkte wie ihr schwindelig wurde. In diesem Moment der Schwäche, da ihre haltende Fassade weggebrochen war, schaute diese Frau sie an, sie wie sie wirklich war und zeigte ihr etwas, das so absurd war, das ihren Verstand überstieg. Auf einmal wollte sie schreien, um sich schlagen, wegrennen. Aber wohin. Die Decke des niedrigen Raumes schien auf sie hinab zu sinken aber draußen, das wusste sie, würden die Wände sie zerquetschen, auf der Straße die Häuserfronten auf sie hinab stürzen.
Und plötzlich, als hätte sie die Panik in Irinas Blick erkannt, wandte Daisy sich um und rannte hinaus.
Hilflos stand Irina da. Auf der Bank hatte Matteo sich aufgesetzt. Er stöhnt. Blut tropfte von seinem durchweichten T-Shirt auf die Hose. Irina sank neben ihm in die Knie. Sie zitterte am ganzen Körper. Das glänzende Blut in Matteos Gesicht beruhigte sie. Die rote Farbe, die schmerzverzerrten Augen, die Tränen, die zwischen aufeinander gepressten Lidern hervorsickerten schienen ihre eigenen zu sein. Als würde er ihren Schmerz ausdrücken, den Schmerz über einen Verlust, den sie eben erlebt hatte und den sie nicht verstand, nicht verstehen wollte. An den sie nicht denken wollte, denn dann überfiel sie der Schwindel und sie merkte, wie sie das Bewusstsein verlor. Und als würde ihr eigener Schmerz dann aufhören spürte sie den starken Wunsch, Matteo nicht mehr leiden zu sehen. Als würde sie ihren eigenen Schmerz damit lindern, nahm sie ein Taschentuch, das jemand ihr reichte, tupfte sein Blut auf, sprach leise zu ihm wie zu einem Kind, das vom Fahrrad gefallen war: "Das wird schon wieder, es wird alles wieder gut."