Simultan

Die Streetworkerin

Aus Simultan

„Guten Morgen“, sage ich. Auf der Bahnhofsuhr haben wir kurz nach neun. Ich habe Kaffee und Croissants dabei.
„Moi-in“, sagt Carl, der von allen nur der Cardinal genannt wird, weil er nur Cardinal trinkt, so wie jetzt.
„Hi, Frauke“, sagt Bine, seine Freundin. Auch sie hält eine Flasche Cardinal in der Hand.
Zwischen ihnen der Zehnerträger Cardinal.
„Guten Morgen, Frank“ sage ich, Frank sitzt teilnahmslos auf dem kalten Boden, von den anderen abgewendet, und streichelt seinen Hund: Cin Cin. Der liegt auf der Seite, die Zunge hechelnd auf dem Boden, eine Speichelpfütze, und lässt es sich gefallen. Auch Cin Cin macht sich nicht die Mühe mich anzugucken. Den Quietscheknochen, den ich ihm mal mitgebracht habe und der sonst immer irgendwo neben ihm liegt, kann ich nirgendwo entdecken.
„Was ist denn mit Frank los“, frage ich.
„Achder“, sagt Carl „Isbeleidicht.“
„Ja“, sagt Bine “Beleidigt.“ Sie ist noch nicht so betrunken und kann das g noch g aussprechen.
„Ja“, frage ich „Was ist denn los, Frank?“
Keine Antwort.
Dann antwortet Carl: „Weilwa ihn nich mittrinkenlassn. Deshlb!“
„Weil er nichts dazugegeben hat, weißte?“ sagt Bine.
„Cin Cin“, lallt Carl „Dreckschöter! Alles fr…“
Ich verstehe kein Wort: „Was ist mit Cin Cin?“
„Frank hat Cin Cin ein neues Halsband gekauft“, sagt Bine.
Carl: „Nchtsbir“
Bine: „Ja, und jetzt nichts mehr für Bier übrig.“
Carl: „Under Schnapsis eh a-alle.“
„Verstehe“, sage ich. „Möchtest du Kaffee?“
Wieder: Keine Antwort.
„Was ist mit euch? Kaffee? Ich hab auch Croissants dabei.“
Die Croissants nehmen sie gern, den Kaffee nicht.
Ich nehme einen Schluck Kaffee, dann sage ich: „Sagt mal, wisst ihr vielleicht, wo ich Daisy finden kann?“
Sie schütteln nur den Kopf, und mit dem Mund voll Croissant sehen sie aus wie Cin Cin wenn er den Quietscheknochen hin und her schüttelt,
„Und du, Frank?“
Immer noch: Keine Antwort.
Ich will noch fragen, was mit dem Quietscheknochen ist, hab aber keine Zeit. Ich muss Daisy finden.
Stattdessen sage ich: „Hier, ich lass euch die restlichen Croissants da, und den Kaffee auch, falls ihrs euch anders überlegt“ und gehe und drehe mich im Gehen noch mal um: „Und gebt Frank auch was ab!“
Ich gehe Richtung Fluss, vielleicht weiß da jemand, wo ich Daisy finden kann.
Daisy lebt auf der Straße und ist verrückt. Ich glaube sogar sie ist gewalttätig. Auch wenn ich das nicht weiß. Und trotzdem wünsche ich mir manchmal mein Bruder wäre ein bisschen mehr wie sie. Hugo ist Mitte dreißig und das komplette Gegenteil. Wenn er könnte und ich nicht darauf bestehen würde, würde er seine Wohnung gar nicht mehr verlassen.
Einmal hat er mir erzählt, wenn ich bei ihm die Treppe hochlaufe und ihn abhole, weil er seine Wohnungstür zum tausendsten Mal wieder aufgeschlossen hat, um zu überprüfen, ob er sie auch wirklich vorher abgeschlossen hatte, dann würde ich ihn an Supergirl erinnern, mit meinem langen roten Haaren, die wie ein Cape hinter meinem Kopf her wehen würden.
Hugo hat braune Haare, kurz, und nichts von einem Superhelden. Er ist unterdurchschnittlich klein für einen Mann und seine Hände auch. Seine Augen sind schön und groß und blau, aber keiner außer mir weiß das, weil er immer nach unten guckt, sobald er die Wohnung verlässt. Hugo ist nicht dumm und weiß, dass die anderen Leute gucken, oder bildet sich das zumindest ein. Und deshalb existieren die Menschen im Großen und Ganzen nur aus Schuhen und Beinen und Hüften. Das war‘s.