Simultan

Amerika, London West, Winterthur, Biel etc.

Aus Simultan

Alles, was ich von meinen Eltern weiss, weiss ich von Tante Henriette und was ich von dieser weiss, ist leider nicht allzu viel. Wir haben ein einziges Mal darüber gesprochen. Ich erinnere mich jedoch noch genau daran. Es war an meinem zehnten Geburtstag, als meine Tante mir offenbarte, dass sie nicht meine richtige Mutter und Onkel Paul nicht mein richtiger Vater sei. Es war daran kalt zu werden, meine Tante und ich liefen durch die Stadt, durch die General-Dufour-Strasse, meine Tante wollte Winterschuhe mit mir kaufen.

Von meinem richtigen Vater weiss ich, dass er aufgrund seines Berufs ziemlich viel gereist ist. Wien, Berlin, St. Petersburg, London, Amsterdam, hat Tante Henriette damals gesagt. Aber auch im Westen soll er sich häufig aufgehalten haben. Amerika. Boston, Chicago, New York.
Mein Vater sei Musiker gewesen, Pianist. Engländer ausserdem, sagte meine Tante, und ein grosses Talent – ziemlich erstaunlich eigentlich, wenn man bedenkt, dass ich noch immer nicht weiss, welches denn mein Talent sein soll. Er hätte in guten Orchestern und in einigen der grossen Hallen der Welt gespielt, meinte sie weiter. Leider habe ich ihn noch nie spielen hören. Ich kenne noch nicht mal seinen Namen. Tante Henriette hatte ihn damals nicht erwähnt und ich war in dem Moment wohl zu überrascht um danach zu fragen. Später dann fehlte mir der Mut dazu.

Ich habe also englische Wurzeln, die ich nicht kenne.
Auch meine Mutter kenne ich nicht. Nur dass sie gemalt, aber kaum je was verkauft hat, weiss ich, und dass sie in einen Künstlerhaus in Winterthur an der Thur lebte und sich, wie es meine Tante nannte, von meinem Vater hat «aufgabeln» lassen, als dieser sich einer Tournee wegen gerade in der Schweiz aufhielt. Getroffen hätten sich die beiden hier in Biel im Café La Rotonde. Meine Mutter sass allein an einem der Tische und trank etwas, danach wollte sie ihre Schwester besuchen. Was mein Vater hingegen während seines Aufenthalts hier in dieser grauen Stadt verloren hatte, ist mir ein Rätsel. Meine Mutter hätte ihren Weisswein über den ganzen Tisch verschüttet.
Das wenige, was meine Tante weiter über meine Mutter sagte, war nichts Gutes. Sie meinte, ihre Schwester sei eine Tyrannin gewesen. Mit tiefen Abgründen und einem Hang zum Flüssigen. Meine Mutter hätte nie viel zustande gebracht, im sich selber Probleme schaffen allerdings sei sie äusserst erfolgreich gewesen. Vielleicht bin ich ihr ähnlich.

Ich wüsste gerne mehr über meine Mutter. Wie die Bilder aussahen, die sie malte oder wie sie selbst überhaupt ausschaute. Tante Henriette behauptet, sie besitze keine Fotos mehr von früher, die wären allesamt in Unterägeri im Kanton Zug, im Haus ihres Bruders, aufbewahrt gewesen. Das Haus sei vor gut 7 Jahren niedergebrannt.

Die blauweiss gestreifte Stofftasche ist das einzige, was mir von meinen Eltern noch bleibt. Genauer gehörte sie meiner Mutter. Meine Tante sagte, sie hätte sie bei sich getragen, an dem Tag, als sie mit meinem Vater nach Petersham, London West, reiste um sich dort mit in einer christlichen Kirche mit ihm zu verheiraten. Meine Tante sagte, meine Mutter hätte zuvor stets über Gott geflucht.

Als dieser eine Tag kam, waren wir gerade hier in der Schweiz. Ich war in der Nähe, aber nicht dabei. Onkel und Tante hatten versprochen auf mich aufzupassen. Ich hockte hier in ihrer Wohnung, an der Korngasse 5 in Biel, nachdem mein Vater entschieden hatte, trotz des schweren Schneefalls mit Onkels Auto und nicht mit dem Zug nach Klosters zu fahren. Alles war gebucht. Meine Eltern sehnten sich nach ein paar ruhigen Tagen in einem ruhigen Mittelklasse Hotel, sagte meine Tante, nach ein paar Tagen nur für sich.