Simultan

Abschaum der Tage

Aus Simultan

Version vom 14. Oktober 2010, 20:35 Uhr von Oliviaw (Diskussion | Beiträge)

... Nichts wie raus hier. Maus zieht die Tür hinter sich zu. Entschlossenen Schrittes geht sie den weissen Flur entlang und gräbt dabei schon mal nach dem Buch in ihrer Tasche; Schaum der Tage von Boris Vian. Sie würde lesen nachher im Bus. Nichts wünscht sie sich jetzt sehnlicher als aus dieser Welt zu verschwinden und abzutauchen in eine andere. Der Umgang mit Buchstaben und fiktiven Charakteren ist ihr bedeutend lieber und fällt ihr auch weitaus leichter als derjenige mit wahrhaftig existierenden Lebewesen.
«Ah! Vous disez ça?», durchbricht eine Stimme ihre Gedanken. «C`est certainement un des plus beaux romans que j`ai lu récemmet.»
Erschrocken wendet Maus den Kopf. Die Tür des Wartezimmers steht offen. Grosse blaue Augen sehen sie an. Redet der mit mir oder wie? Sie zweifelt, zögert, aber dann bleibt sie stehen. Und als ob der Unbekannte ihre Frage erraten hätte, hebt er seinen Arm, zeigt auf das zerfledderte Buch in ihrer Hand.
«Uh!», stösst sie hervor – unbeholfener als ihr lieb gewesen wäre. «Vraiment ... wirklich? Nun, ich bin noch nicht ganz durch».
«Ah, ich verstehe ...»
Was, fragt sie sich, was versteht er?
«Und ... ich habe dich hier noch nie gesehen, kommst du neu zu Herrn Schmitt?»
Maus runzelt die Stirn. Sie wüsste nicht, was ihn das angehen würde. Und überhaupt; neu zu Herrn Schmitt kommen? Die Selbstverständlichkeit, die in dieser Formulierung steckt, kommt ihr suspekt vor. Klingt schon fast so, als wäre der Typ selbst schon ewig in Behandlung, denkt sie. Was es wohl war in seinem Fall? Depression? Manie? Drogen? Wahnvorstellungen? Aber wo sie ihn sich jetzt genauer ansieht, traut sie ihm eigentlich nichts von alle dem so richtig zu. Er hat einen drei Tagebart, seine dunklen Haare sind etwas nachlässig frisiert, unter seinen Augen liegen Schatten. Wahrscheinlich schläft er nicht allzu viel, vermutet Maus, aber sein Gesicht ist freundlich und wirkt trotz allem offen und wach. Wie einer, der vollständig eins an der Waffel hätte, sieht er ihrer spontanen Einschätzung nach jedenfalls nicht aus.
«Sozusagen. Es ... es war meine erste Sitzung.», gibt sie zur Antwort. «Und die letzte.»
«Ja, ich verstehe.»
Schon wieder versteht er. Erstaunlich – aber wenn er meint.
«Er ist ein bisschen komisch», fährt er fort, «aber ich finde genau das gleichzeitig auch beruhigend.»
Viel fällt ihr zum Thema Aaron Schmitt nicht mehr ein: «Hm. Oui.»
«Vielleicht können wir eines Tages ein Glas zusammen trinken?»
Maus schluckt. Etwas in ihr krampft sich zusammen, sie spürt, wie sie unruhig wird.
«Ein Glas was?»
Fast möchte sie sich die Hand vor den Mund halten. Sie bemerkt, dass ihre Stimme zu laut klingt und der aggressive Tonfall, der darin mitschwingt, erschreckt sie selbst. Hast dich mal wieder nicht unter Kontrolle. Reiss dich zusammen Mädchen, schimpft sie innerlich mit sich. Musst ja nicht Ja sagen, wenn du nicht willst. Sowieso musst du überhaupt gar nichts. Niemand zwingt dich zu irgend Etwas.
«Ich ...nun ... ich weiss nicht. Vielleicht.»
«Wie du willst! Fühl dich nicht gezwungen!» Das sagt er, wobei er ihr gleichzeitig nett lächelnd Zettel und Stift entgegenstreckt. «Schreib mir hier deine Nummer auf.»
«Meine Nummer?»
Maus hält einen Moment lang inne. Na schön, denkt sie dann, was soll`s und nimmt Papier und Kugelschreiber entgegen. Hauptsache endlich weg hier. Wird schon nicht anrufen, der Typ. Hastig notiert sie ihre Handynummer und gibt ihm die Schreibutensilien zurück. Er lächelt. «Ok ... voilà. Dann ciao», stösst sie zum Abschied hervor.
«Bis bald!» Er strahlt noch immer. Sie hat jetzt so gut wie keine Zweifel mehr; sie weiss, sein Lächeln gilt ihr.

Als Maus das Gebäude verlässt allerdings, an die frische Luft gelangt, fällt ihr ein, dass er sie nicht mal nach ihrem Namen gefragt hatte. Mistkerl, aber von mir aus, auch gut, sagt sie sich, zieht die Jackenärmel bis über ihre Fingerkuppen, verschränkt die Arme vor der Brust und geht in Richtung Bushaltestelle.