Simultan

Die zwei Gesichter der Irina T.

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Version vom 24. Oktober 2008, 10:39 Uhr von LarsG (Diskussion | Beiträge)


Irinas Blick. Alt, schwach, enttäuscht. Ihre sonst so erhabene Haltung. Nun stand sie da, mit beinahe unmerklich hängenden Schultern, kraftlos, zitternd. Welch ein Genuss, welch ein Triumph für Daisy, dachte Irina. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre ausdruckslosen Blicke. Genug, um zwischen diesen beiden gescheiterten, von Schmerz und Wut zersetzten Existenzen alles zu klären. Nur ein Wimpernschlag war nötig gewesen, um sich einander ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sich gegenseitig die entscheidenden Szenen anzuvertrauen, in denen sich ihre Seelen von der Welt verabschiedet hatten, in denen sie sich entschlossen hatten, der Welt eine Fassade zu präsentieren, um ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Irina erkannte sich in den Augen von Daisy, einer Frau, die rein oberflächlich betrachtet nicht unterschiedlicher sein konnte. Sie hatte das Gefühl, sich überhaupt zum ersten Mal im Leben zu sehen. Ihre langen, schwarzen Haare, die sie professionell immer zum Knoten gedreht oder hochgesteckt trug, sah sie nun zart gewellt ihren Kopf umspielen, die eine Strähne, die sie jeden Morgen minutenlang bändigen musste, weil sie sich kringelte wie der Schwanz eines kleinen Kätzchens, das sich selbst jagt. Ihre harten Gesichtszüge, verstärkt von der strengen Frisur, dem dunklen Rouge und dem roten Lippenstift mit dem bläulich-kalten Unterton, lösten sich auf, gaben zartrosa Wangen Preis, hellrosa Lippen, fast so, wie man sie in den 60ern mit einer Schicht Penatencreme künstlich herzustellen versuchte. Der metallisch glänzende, anthrazitfarbene Anzug mit dem dunkelroten Seidentop, welches sie daruntertrug, wurde plötzlich wie unter der Berührung eines Feenstabes im Cinderella-Märchen durch ihre alte rosenholzfarbene Strickjacke ausgetauscht, für die Irina sich schämte, weil der rechte Ärmel von den Rangeleien mit ihrem Kater zerkaut war, und nur  noch in Fetzen am Rest des Stoffes hing, so wie ihr Innerstes nur noch an überstrapazierten Bändern mit ihrem übrigen Dasein verbunden war. Die an den Mundwinkeln eingefurchten Linien in Irinas Gesicht, die ihrer Mimik etwas Unnachgiebiges verliehen, wurden zu Lachfalten, welche sich eingeprägt hatten, als sie, in ihre Wolldecke eingekuschelt, unter dem Schutz der Holzbalken in ihrem Elternhaus, welche immer diesen wohligen Holzduft verbreiteten, der sie auch heute noch den Besuch eines Baumarktes geniessen liess, in ein Buch versunken, mitten in der Nacht lauthals auflachte und sich minutenlang nicht beruhigen konnte, weil sie sich zu sehr über diese Zeilen amüsierte: "Laptantidel Latuda, Sie wurden dabei gesehen, wie Sie, die zamonische Nationalhymne singend, sich in einen Breifkasten übergaben." Irina Trepkowitz wurde in den Augen von Daisy zu einem süssen, lebensfrohen Mädchen. Und es war ihr egal, sie fand es nicht einmal unangenehm, fast wollte sie grinsen, wie wenn man gerade bei einer Lüge ertappt wurde. Ein warmes, fast vergessenes Gefühl überkam sie, konnte es vielleicht so etwas wie Freundschaft sein? Freundschaft. Entsteht Freundschaft nicht zuweilen unter den seltsamsten Umständen? In der Türe des Kraftraums stehend, um den Mann kämpfend, der seit ewigen Sekunden blutend vor ihnen lag .

Sie stand. Schaute hinab auf das wunderschöne, dieses göttliche Gesicht. In dem eine schwarze Stange lag, ein rot glänzender See wuchs darum, weiße Inseln schwammen Zähne in den Wellen. Glucksende Laute. Panisch aufgerissene Augen. Irina konnte sich nicht bewegen. Starrte auf die zappelnde Gestalt unter ihr. 

"Vedammt!" Der sichernde Mann fuhr endlich herum, packte mit beiden Händen die Stange und zerrte sie von dem Körper. Donnernd schlug sie auf den Boden. Seine dicken Hände fuhren hinab, hielten zitternd Zentimeter vor Matteos blutüberströmten Gesicht. Matteo kreischte. Blut spritzte dem Mann ins Gesicht. Er schrie zurück. Minutenlang fuchtelten sie beide mit den Händen in der Luft herum, der Mann über den liegenden Matteo gebeugt.

Absurd, dachte Irina. Vor ihr zwei Männer, inzwischen beide blutüberströmt, die sich anschrien. Der eine verwundet, vielleicht schwer. Dahinter diese Frau, sie stand stumm, genau wie sie selbst. Schaute auf die beiden Männer auf der Bank. Das gequollene rotzverschmierte Gesicht ausdruckslos.

Warum sich bewegen. Warum etwas tun.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es gab nichts zu tun. Dort lag er aber sie hatte keinen Wunsch ihm zu helfen.


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